Sonntag, 29. April 2012

In Gedenken an Milt Kahl

Am 19. März jährte sich zum 25. Mal der Todestag eines der wichtigsten und einflussreichsten Disney-Zeichner: Milt Kahl, auch als "der Michelangelo der Animationskunst" betitelt. Er gehörte zu der erlesenen Gruppe an Zeichnern, die Walt Disney als seine "Nine Old Men" bezeichnete. Kahl nahm sich seinen Figuren mit Passion und analytischem Verstand an und trieb seine Kollegen und Schüler an, sich stets ständig zu verbessern. Dies erfolgte mit einem ebenso toughen Mundwerk, wie mit Hilfsbereitschaft. Zu Milt Kahls wichtigsten Arbeiten zählen die Titelfigur in Pinocchio, der erwachsene Bambi, die gute Fee in Cinderella und auch die Erfindung von Primus von Quack, einem großen Zuschauerliebling in Walt Disney's Wonderful World of Color.

Zu Milt Kahls Ehren möchten wir zum Abschluss unseres ersten Artikelzyklus im Rahmen von Im Schatten der Maus auf unsere Lieblingsmomente unter Kahls Beitrag zum Disney-Erbe zurückblicken.


Akus Favorit



Milt Kahl zeichnet den Hasen Meister Lampe
(Copyright: Walt Disney)
 

Obgleich sich diese Artikelreihe dadurch auszeichnet, dem Leser ausgewählte, hervorragende Charaktere vorzustellen – bzw. nähere Informationen über sie bereitzuhalten – verhält es sich mit diesem Stück Trickfilmgeschichte etwas anders. Da Onkel Remus' Wunderland in vielen Dingen von der Normalität abweicht (besonders aus Sicht des imageverlustängstlichen Manager bei Disney), sollte das aber nicht weiter verwundern. Der bisher nicht (auf legalem Wege) als digitale Kopie veröffentlichte Streifen von 1946 wird momentan immerhin restauriert – zwar nicht, um ihn anschließend zu veröffentlichen, aber immerhin um zu verhindern, dass er in den Archiven vergammelt. Zumindest nährt das die Hoffnung, dass Disney nicht den heimlichen Wunsch hegt, die Nachkriegsproduktion für alle Zeiten aus dem eigenen Index zu streichen.

Die Besonderheit, die Onkel Remus' Wunderland ausmacht, liegt im Herstellungsprozess. Dieser war grundlegend anders, als bei allen vorangegangenen, abendfüllenden Werken und den meisten, die noch folgen sollten. Im Gegensatz zu Pinocchio & Co. wurden den Chefzeichnern des Films um Milt Kahl, Eric Larson, John Lounsbery und Ollie Johnston nicht einzelne Figuren zugeteilt, für deren Auftreten im Film sie verantwortlich sein würden, sondern ganze Szenen. Eine weitere Neuerung bestand in der Zusammenarbeit von Milt Kahl und dem begnadeten Storyboard-Künstler Bill Peet, der für weite Teile des Storyboards von Onkel Remus' Wunderland  verantwortlich war. Bill Peet übernahm auch wichtige Aspekte des Charakterdesigns und stritt anschließend mit Kahl über die Details, wobei letzterer in der Regel die Oberhand behielt – auch wenn er ziemlich entrüstet war, als Milt Kahl Jahre später aus „seinem“ formschönen Dalmatiner Pongo eine riesenschnäuzige „dänische Dogge“ machte.

Hinsichtlich der Trickfilmsequenzen wird Onkel Remus' Wunderland in der Regel gnadenlos unterschätzt, was sicher auch damit zusammenhängt, dass eine (kritische) Betrachtung des Werks der weiten Bevölkerung schlicht unmöglich ist und der Film daher in der Öffentlichkeit keine Rolle spielt. Dabei sind gerade Milt Kahls Sequenzen fabelhaft, was der selbstkritische Meister selbst ähnlich sah.

Wer die VHS-Veröffentlichung der Riethmüller'schen Synchronisation ins Deutsche von 1982 nicht sein Eigen nennt, findet ebendiese in mehrere Teile zerlegt auf YouTube. Der von Milt Kahl gestaltete Abschnitt beginnt in diesem Video bei Minute 5:45 und findet seine Fortsetzung hier. Inhalt der Szene ist der Trick von Patzig, dem Fuchs und Brumm, dem Bär, mit dem sie Meister Lampe in die Falle locken wollen: aus Teer fertigen sie ein bekleidetes Teerbaby, das Meister Lampe zu dessen Verärgerung ignoriert, als er an ihm vorbeschreitet. Er beginnt einen Kampf mit dem unhöflichen Wesen, der darin endet, dass Patzig und Brumm, die zuvor auf sein Erscheinen gelauert hatten, dem verklebten Hasen der Freiheit berauben. Es beginnt ein – in erster Linie kommunikativer – Schlagabtausch, an dessen Ende Meister Lampe durch eine List entflieht. An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass das schwarze Teerbaby ein Zeichen von ausgemachtem Rassismus ist – und nicht etwa eine Metapher, wie der unschuldige Betrachter zunächst denken mag – so die Deutung einiger Filmwissenschaftler.



Cel von Milt Kahl
(Quelle: Andreas Deja; Copyright: Walt Disney)
 

Die Sequenz, in der Meister Lampe, an den Ohren gehalten, dem Streit der beiden Feinde beiwohnen muss, wurde von Milt Kahl als die am Schwersten zu zeichnende seiner Karriere bezeichnet. Beim Betrachten des entsprechenden Stücks wird deutlich, weshalb – die drei Charaktere sind exakt aufeinander abgestimmt, befinden sich in rascher Bewegung, die Perspektive ist mitunter komplex.

Die Zeichnungen von Milt Kahl vereinen den Slapstick der früheren Zeichentrickfilme mit seiner außergewöhnlichen Präzision, sowohl, was die Qualität der Zeichnungen angeht, als auch der fabelhafte Fluss der Bewegung. Besonders schön animiert ist natürlich Meister Lampe in seinem Versuch, das Teerbaby zur Konversation zu bewegen und später aus den Klauen des Fuchses zu entkommen. Wie er zitternd, bibbernd, blitzgescheit, an den Ohren gehalten seinen Fluchtplan schmiedet, ist großartig, auch die Gedanken des naiven Fuchses zeigen sich in seiner makellosen Darstellung. Die Bildperspektiven, die vereinzelten Zoom-ins, gehen mit Sicherheit auf das Storyboard Bill Peets zurück und bringen die Komposition der Szene zur endgültigen Perfektion.

Es kann nur der Wunsch jedes Trickfilmfreundes sein, dieses Werk in bester Qualität im heimischen Regal stehen zu haben. Der Film ist in vielerlei Hinsicht erstaunlich, auch in seiner Rolle als frühes Werk nach dem Ende des Golden Age und darf in qualitativer Hinsicht als einläutendes Werk zum Wiederaufstieg der Walt Disney Studios gelten. Vermessen wäre, Onkel Remus' Wunderland nur als „Übergangstitel“ nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen, vielmehr handelt es sich um ein – in vielen Belangen – Meisterwerk, das es verdient hat, selbstständig im Disney-Kanon betrachtet zu werden.

Anankes Favorit

Milt Kahl ist den meisten Animationskennern vor allem auf Grund seiner karikaturistischen Zeichnungen ein Begriff. Er war ein Genie darin, Cartoon-Figuren so darzustellen, dass man authentische menschliche Gefühle in den übersteigerten Zeichnungen wiederfinden konnte. Während seiner Zeit als Animator war Kahl nur für eine Handvoll realistisch animierter Figuren wie Alice oder Prinz Philip zuständig, doch diese wenigen Glanzstücke zeigen, dass er mehr als fähig war, dieselbe Beobachtungsgabe für menschliche Emotionen auch in natürlicher Form in seine Zeichnungen einfließen zu lassen.
Von all den von ihm geschaffenen Filmcharakteren ist die für mich beeindruckendste die der Slue-Foot Sue, die große Liebe des Cowboys Pecos Bill, die im finalen Segment von Musik, Tanz und Rhythmus ihren kurzen, aber einprägsamen Auftritt hat.


Die Geschichten über Pecos Bill wurden erstmals 1917 von Edward O'Reilly in The Century Magazine veröffentlicht. O‘Reilly behauptete damals, es handele sich um althergebrachtes Volksgut, dass seit Generationen von den Cowboys überliefert würde - spätere Nachforschungen ergaben allerdings, dass er sich die Geschichten als „Fakelore“ selbst ausgedacht hatte. Seit diesen ersten Veröffentlichungen haben jedoch immer mehr Autoren ihren eigenen Beitrag zu dem Pecos Bill-Mythos beigetragen, so dass der furchtlose Cowboy heute in Amerika einen Platz einnimmt, der mit der Stellung „echter“ überlieferter Volkshelden wie Zorro oder Robin Hood ohne Probleme mithalten kann.

Milt Kahls Aufgabe war es, nicht nur diesen ultimativen Cowboy würdig umzusetzen, sondern ihm auch das ultimative Cowgirl gegenüberzustellen. Slue-Foot Sue war als Pecos Bills große Liebe von Anfang an Teil der Geschichten und die Disney-Version hält sich in diesem Fall sehr genau an das Ausgangsmaterial: Die erste Begegnung der beiden, bei der Sue auf einem Katzenfisch einhändig den Rio Grande entlangreitet wird genauso detailliert gezeigt wie Bills Heiratsantrag, bei dem er für Sue die Sterne vom Himmel schießt. Und auch wenn Sue in dieser Fassung eher mit ihrem Makeup als mit dem Revolver beschäftigt ist, lässt Kahl keinen Zweifel daran, dass wir es mit einem knallharten Präriemädchen zu tun haben: der absolute Traum eines jeden Cowboys.

Im letzten Teil der Western-Romanze gehen die verschiedenen Versionen auseinander und es ist bemerkenswert, dass man sich bei Disney für ein eher melancholisches Ende entschieden hat. Während alle Überlieferungen von der Hochzeit und von Sues tragischem Entschluss, Bills Pferd mit ihrer Tournüre reiten zu wollen berichten, herrscht über Sues endgültiges Schicksal Uneinigkeit: In manchen Geschichten wird sie von Bill gerettet, will aber nichts mehr von ihm wissen, in anderen hüpft sie so lange vergebens bis zum Mond, bis Bill sie mit einem Gnadenschuss tötet, um sie vor einem langsamen Hungertod zu bewahren. Der Disneyfilm schlägt mit Sues Landung auf dem Mond und Bills Rückkehr in die Wildnis eine Art Mittelweg ein, doch gemein haben alle Versionen, dass Pecos Bill den Verlust seiner einen wahren Liebe niemals ganz verwinden kann.

Gerade diese Darstellung von Sues Ende ist in ihrer Art wohl nur im Zeichentrickfilm möglich; allein in diesem Medium kann eine Szene, in der eine Frau von ihrer Tournüre bis zum Mond geschleudert wird, visuell realistisch dargestellt werden. Aus dem gleichen Grund war auch Milt Kahl der ideale Zeichner für das legendäre Liebespaar. Er verstand es wie kaum ein anderer, genau den richtigen Grad zwischen Karikatur und Realismus zu treffen, und so war er in der Lage, die legendenhaft-übertriebene Geschichte absolut überzeugend umzusetzen.


Auch der Charakter von Sue wird auf wundervolle Art wiedergegeben. Wenn die Geschichten neben ihren Fähigkeiten als Cowgirl auch nicht allzu viel über sie erzählen, so ist doch allein der Name aussagekräftig genug: Als ein slew-foot wird im Englischen eine spezielle Art des Bein-Stellens bezeichnet, bei der das Opfer von hinten umgeworfen wird. Diese leise Anspielung auf Sues Charakter wird in Kahls Zeichnungen ebenso subtil wiedergegeben; in jedem ihrer Augenaufschläge drückt sich eine Koketterie und Berechnung aus, die es mit Lady Tremaines Lächeln problemlos aufnehmen kann.

Auch wenn Slue-Foot Sue nur einen kurzen, stummen Auftritt im Disney-Kanon verbuchen kann, so hinterlässt sie doch einen nicht unerheblichen Eindruck. Lange Zeit hindurch war ihre Beliebtheit so groß, dass sie in Disneyland als Star ihrer eigenen Show auftrat: Disneyland‘s Horseshow Revue, die vom Eröffnungstag des Parks 1955 bis Ende 1986 durchgehend Zuschauer begeisterte und als am längsten laufende Bühnenshow überhaupt Geschichte schrieb.
Als rührende Zusatzinformation lässt sich erwähnen, dass Betty Taylor, die für mehr als drei Jahrzehnte die singende Saloon-Gastgeberin und Liebchen von Pecos Bill darstellte, 2011 genau einen Tag nach Wally Boag starb, dem Schauspieler, der als Pecos Bill über 25 Jahre mit ihr auf der Bühne stand.

Anders als Pecos Bill, der eher als lustiger Haudegen dargestellt wird, schuf Milt Kahl in Slue-Foot Sue ein echtes Rasseweib. Allein durch Aussehen und Mienenspiel zeigt sie eine Mischung von Koketterie und Wildheit, die sie - gerade für Disney-Verhältnisse - zu einer außergewöhnlichen Figur machen.

Das Ganze wird noch verstärkt durch eine leichte Karikatur, genug, um den Charakter ihres Äußeren noch weiter zu betonen, doch so wenig, dass sie jederzeit als reeller Mensch empfunden werden kann. Diese Übersteigerung der Sexualität ist vielleicht am ehesten vergleichbar mit dem Design von Jessica Rabbit, doch in Sue gelingt die Gratwanderung zwischen Cartoon und Sexbombe meiner Meinung nach erheblich geschickter und erfolgreicher als bei Jessicas platt übersteigerten Kurven.
Milt Kahl hatte die Aufgabe, für ein kurzes Segment eine stumme Nebenfigur zu animieren und schuf eine Legende. Das Ergebnis ist eine Figur, die es schafft, gleichzeitig das perfekte Western-Girl und die idealisierte Frau sowohl ihrer als auch unserer Zeit in sich zu vereinen.

Sir Donnerbolds Favorit

Als Zeichenkünstler mit einer sehr handwerklichen, perfektionistischen Herangehensweise wurde Milt Kahl sehr häufig die Aufgabe zugeteilt, Figuren zu verwirklichen, die nur schwer glaubwürdig umzusetzen schienen. Kahl zeichnete viele eher ernstere Figuren wie Anita in 101 Dalmatiner oder den erwachsenen Bambi, da man es im Disney-Studio nur ihm mit seiner scharfen Beobachtungsgabe zutraute, ihnen Leben einzuhauchen. Allerdings schlummerte in Kahl auch ein Künstler mit großem Gefühl für Dynamik und Timing, weshalb seine Tanzsequenzen zu den besten im Zeichentrickmedium gehören und er auch großartige komödiantische Rollen schuf, darunter etwa Merlin oder der bereits erwähnte Primus von Quack. Milt Kahls Bandbreite gehört für mich zu seinen bestechendsten Beiträgen zum Disney-Schaffen, aber sie wurde nicht immer derart wertgeschätzt.


Noch zu Beginn der 40er Jahre stichelten seine Kollegen, er sei unfähig, aufgedrehte, komödiantische Cartoonfiguren zu zeichnen. Dann aber übernahm er die Aufgabe, den Tiger im 1945 Goofy-Cartoon Tiger Trouble zu zeichnen. Kahl animierte ihn nahezu im Alleingang und lieferte eine derart fantastische Nebenfigur ab, dass die scherzhaft-gehässigen Bemerkungen seiner Mitarbeiter für immer verstummten. Tiger Trouble zeigt Goofy als Wildjäger im Dschungel, während ein Erzähler (in einer leichten Abkehr von der üblichen How to-Formel) nicht etwa Goofys Fortschritte kommentiert, sondern die bedrohliche Anziehungskraft des Dschungels sowie die Grazie des gefährlichen Tigers. Kahls Tiger jedoch ist ein schlacksiger, dürrer und bewusst "gummiartiger" Geselle, der sich von einer meisterlichen Pose auf überaus komische Form in die nächste präzise ummessenen Pose dehnt. Die "Weichheit", mit der die Bewegungen dieses Tigers von Statten gehen, ist eine radikale Abkehr von dem damals üblichen Disney-Stil und fände eher in einem Hanna-Barbera-Cartoon jener Ära Platz, wobei der Tiger, wenn er sich in Pose geschmissen hat, auch sehr viel Persönlichkeit ausstrahlt. Die Definiertheit, mit der Kahl diese schlacksige Witzfigur animierte, gibt dem Tiger einen richtigen Charakter, wodurch er sich von den gummibandartigen Randfiguren der frühen Schwarzweißcartoons abhebt, die nichts weiteres waren, als sich zur Musik dehnende Striche und Kreise. Tiger Trouble bietet jedem Liebhaber loser Animation mit Kahls Tiger ein furioses Beispiel für wagemutigen, selbstbewussten Einsatz von "Squash & Stretch".

Danach wurde Kahl gewissermaßen zum Studioexperten für gestreifte Großkatzen: Beim Dschungelbuch durfte Milt Kahl einen radikal anders gestalteten Tiger verwirklichen und schuf so einen der besten Disney-Schurken überhaupt. Kahl übernahm nahezu alle Szenen von Shir Khan (der Rest stammt von John Lounsbery) und verlieh dieser Figur mindestens so viel Gewicht, Schwere und Klasse, wie ihrem namenslosen Vetter Humor und Dehnbarkeit. Shir Khan ist nicht nur ein Beispiel dafür, wieviel Grazie, Seriösität und Bestimmtheit Kahl in eine Zeichnung legen konnte, sondern auch für sein die meisten seiner Kollegen in den Schatten stellende Beobachtungsgabe. Über die Jahrzehnte entwickelte Kahl ein derart umfassendes Verständnis dafür, wie sich die reale Anatomie eines Tieres in eine ausdrucksstarke Zeichnung übertragen ließ, dass er für Shir Khan bloß eine Woche lang Recherche über die Bewegung von Tigern betrieb – ein unfassbar kurzer Zeitraum.


Dass der bedrohliche, auf seine ganz eigene, strenge Art dennoch auch durchaus zu kleineren, bedrohlichen Scherzen aufgelegte, Shir Khan galant gestreift ist, hätte vielen anderen Zeichnern Albträume verursacht. Muster sind im Zeichentrick stets eine riesige Herausforderung, so musste sich Khans Streifenmuster glaubwürdig mit ihm mitbewegen und obendrein musste mit hoher Präzision gearbeitet werden, um Kontinuität zu wahren. Aufgrund dessen vermeidet man solche optischen Schmankerl üblicherweise im Zeichentrickmedium, sogar John Silvers gestreiftes Paar Hosen musste in Der Schatzplanet irgendwann ausgetauscht werden, weil die Animation dem Team Kopfschmerzen bereitete – und dieser Film profitierte immerhin von mehreren Jahrzehnten technischer Optimierung. Kahl hingegen hatte kein Problem mit den Streifen – ganz im Gegenteil sogar. Seiner Meinung nach halfen sie ihm, die richtige Form für Shir Khan zu finden und stets im Blick zu halten, wo sich der Bewegungsschwerpunkt befinden muss.

Mit Shir Khan war jedoch nicht Kahls letzter Tiger gezeichnet. Ein paar Jahre später fand sich mit Tigger gewissermaßen der Mittelweg zwischen den zwei Großkatzen-Extremen: Winnie Puuhs sprunghafter Freund ist eine hibbelige, vitale Figur, doch auch mehr als ein ein reines Comedy-Element und obendrein auch noch ein (lebendiges) Stofftier mit einer gewissen Selbstverliebtheit, vielleicht sogar Arroganz. Tigger konnte also nicht derart betont und geziemt wie Shir Khan, aber auch nicht dermaßen beweglich wie der Tiger aus Tiger Trouble sein. Und auch mit seinem dritten Tiger traf Kahl genau ins Schwarze:



Dies wären unsere Anmerkungen zum großen Schaffen des vielseitigen Künstlers Milt Kahl. Und somit schließt sich auch unser erste Artikelzyklus. Der kommende Wonnemonat Mai macht in unserem Fanprojekt "Im Schatten der Maus" alles neu. Euch erwarten neue Artikelreihen, in denen wir wieder Woche für Woche einen Aspekt der gewaltigen Welt Disneys genauer beleuchten.

Donald in Mathmagic Land

War Micky das "Über-Ich" des ewigen Träumers Walt Disney, lässt sich der vom Pech verfolgte und cholerische Donald Duck als sein "Es" betrachten. Mit seiner unverwechselbaren Art trat er schnell aus dem Schatten der Maus. Diese Artikelserie präsentiert die Cartoons, die Donald auch aus Sicht der Academy of Motion Picture Arts &  Sciences in den Film-Olymp aufsteigen ließen. Dies sind die Kurzfilme, die ihm eine Oscar-Nominierung einbrachten. Dies ist Entengold.

In der elften Ausgabe dieser Artikelreihe brechen wir zum zweiten Mal aus der Kurztrickfilm-Kategorie aus. Denn mit der nachlassenden kommerziellen Tauglichkeit regulärer Cartoons schenkten Walt Disney und seine Künstler dem Segment unterhaltsamer Lehrfilme wieder größere Aufmerksamkeit. Eine dieser lehrreichen Produktionen erfreute sich außerordentlich hoher Popularität: Donald in Mathmagic Land.

Cover der deutschen Veröffentlichung auf Videokassette

Wir erinnern uns kurz zurück an den Anfang von Donalds Solokarriere, als die Zeichner und Gagautoren befanden, dass es sich mit dem Wüterich deutlich flexibler Cartoons gestalten lässt, als mit Micky Maus. Sie hielten Donald für die unterhaltsamere Figur, weshalb alsbald mehr neue Kurzfilme mit ihm, als mit dem Rundohr produziert wurden. Diese studiointerne Auffassung, dass sich Donald einfacher zu unterhaltsamen Ergebnissen in eine Vielzahl von Situationen versetzen lässt, ist nicht unbedeutend, um die Geschicke hinter der letzten Phase von Donalds Leinwandkarriere zu begreifen.

Darüber hinaus lässt sich auf die Ära des Zweiten Weltkriegs zurückblicken, als sich die Studios gezwungen sahen, Aufträge für Propaganda- und Ausbildungsfilme anzunehmen, um ein wirtschaftliches Überleben zu sichern. Gegen Ende der 50er Jahre hatte Walt Disneys Unternehmen keine solch argen Probleme mehr. Die Realfilmproduktion war eine verlässliche Einnahmequelle, man hatte längst Fuß im Fernsehen gefasst, verfügte über einen stattlichen Katalog an zeitlosen Klassikern, die in regelmäßigen Abständen neu ins Kino entlassen werden konnten und hatte vor allem einen kleinen, florierenden Freizeitpark nahe Los Angeles. Das alles half allerdings nicht der Kurzfilmproduktion, die kaum mehr etwas mit dem eifrigen und von Pioniergedanken geprägten Geschäft gemein hatte, in die Disney drei Jahrzehnte zuvor einstieg.

Nachdem der Umstieg auf CinemaScope Disneys Kurzfilmproduktion noch etwas länger am Leben hielt, folgte 1956 die Einstellung aller regulären Reihen. Es folgten nur noch experimentellere Kurzfilme, etwas längere Produktionen sowie Lehrfilme, teils im Auftrag erstellt, teils von den Disney-Künstlern selbst erdacht. Der erste dieses neuen Schwungs an Lehrfilmen war Donald in Mathmagic Land, der zu den Kurzfilmen gehört, dem Walt Disney persönlich eine besonders hohe Aufmerksamkeit zuteil kommen ließ. Ihm war so viel an der Verwirklichung dieses Projekts gelegen, dass er es entgegen der Warnungen seines Bruders Roy, der Lehrfilme als wirtschaftliches Gift für das Studio betrachtete, ins Kino hievte, obwohl er Donald in Mathmagic Land unter weniger größeren finanziellen Risiken als Episode von Walt Disney presents im Fernsehen hätte zeigen können. Dort liefen zuvor bereits erfolgreiche, wissenschaftliche, dennoch kurzweilige Specials wie Man in Space.

Einige Biographien über Walt Disney zeichnen ihn als bildungsverdrossenen, einfach gestrickten Mann vom Lande, dem allein an Unterhaltung gelegen war. Insbesondere Richard Schickels Texte spielen bevorzugt auf Walts akademische Unbildung an und stricken darauf zuweilen ein bewusstes Desinteresse. Manche sind in ihrer Darstellung Disneys etwas differenzierter und gestehen ihm ein, anfangs Kunst produzieren zu wollen, vermuten allerdings, dass Walt an einem bestimmten Zeitpunkt mit der intellektuellen Elite brach und sich bloß noch auf die Interessen des simplen Amerikaners beschränken wollte. Zumeist wird der finanzielle Misserfolg von Fantasia als Wendepunkt bemessen. Das entspricht allerdings nur partiell der Realität. Es trifft zu, dass Walt Disney nach Fantasia in Interviews betont anti-elitär auftrat und auch davon sprach, nachts davon zu träumen, dass seine Filme in Kunstkinos aufgeführt würden, wovon er schweißgebadet und zitternd aufwache. Walt gab sich als Mann des Volkes, versteckte nicht, dass seine Leibspeisen so alltägliche Dinge wie Hamburger oder mit Käse überbackene Makkaroni sind, oder dass er seinen High-School-Abschluss erst ehrenhalber erhielt.


Dennoch blenden Biographen, die Walt Disney als Bildungsignoranten einordnen, zahlreiche entscheidende Fakten aus. Die zahlreichen Naturdokumentationen etwa, für die Walt eine große Passion aufbrachte, und für die er sich mit solch einer Überzeugung einsetzte, dass er sich von Vertriebspartnern löste und bittere Streits mit Roy führte. Aus heutiger Sicht mögen gerade die abendfüllenden Dokumentationen durch ihre Inszenierung und Vermenschlichung der Tiere verbesserungswürdig sein, damals jedoch spielten sie im Bereich des Dokumentarfilms weit vorne mit, und die Kurzdokumentationen packten ihre Themen generell etwas ernster an. Die zahlreichen informativen Fernsehspecials waren ebenfalls Herzensangelegenheiten Walts und keinesfalls als Anbiederung an Kulturhüter gedacht, geschweige denn kommerziell kalkuliert. Wäre es nach den Fernsehsendern gegangen, hätte Disney allein auf zuschauerträchtige Western- und Abenteuerserien gesetzt.

Aus diesen Gründen finden einige ehemalige Mitarbeiter Walt Disneys an ihn ignorant skizzierenden Biographien Anstoß. John Carl Nater, der während des Zweiten Weltkriegs in den Studios die Produktion militärischer Bildungsfilme koordinierte und in den 50ern Jahren die für 16mm-Film(kopien) zuständige Abteilung leitete, schrieb als Reaktion auf eine dieser fehlerhaften Charakterisierungen Walts:

"Die Fakten, so weit ich sie kenne, widersprechen Aussagen dieser Art, und es verstört mich, dass diese in Ihrem Buch vorkommen und den Eindruck erwecken, dass Walt Lehrende verachtete, gegen Aubildung war und auf irgendeinem Weg versuchte, Bildung zu verhindern. Dies entspricht schlichtweg nicht der Wahrheit. Meines besten Wissens und Gewissens nach, hatte Walt größten Respekt gegenüber allen Lehrenden und allgemein auch für die Bildung. Nun, es mag stimmen, dass es manchmal zwischen ihm und den wissenschaftlichen Beratern an unseren Ausbildungsfilmen zu Reibungen kam, aber das ist vollkommen normal. [...]

In meinen Augen steht es außer Frage, dass Walt überaus daran interessiert war, wie er sich im Gebiet der Bildung betätigen konnte – er betätigte sich, indem er die Talente in seinem Unternehmen dazu nutzte, sich schwierigen erzieherischen Problemen anzunehmen. Die Erfolge von The Story of Menstruation, Donald in Mathmagic Land, Our Friend the Atom und all den anderen erzieherischen Disneyfilme sind Zeugnisse von Walts Streben danach, bedeutsame Informationen zu nehmen und dem Durchschnittspublikum verständlich zu machen."
(John Carl Nater in einem Memo an den Walt-Disney-Biographen Richard Hubler, veröffentlicht in Walt's People – Volume 11 von Didier Ghez)

Walts Methode, Fakten verständlich aufzubereiten, beruhte insbesondere darauf, Wissensvermittlung unterhaltsam zu gestalten. Allerdings war dies eine Erkenntnis, für deren Umsetzung Walt Disney erst kämpfen musste. Treue Leser dieser Artikelreihe erinnern sich womöglich daran, dass das Finanzministerium dagegen war, dass Donald Duck im Kurzfilm The New Spirit vorkommt, um für pünktliche Steuerzahlung zu werben. Diese Meinungsverschiedenheit konnte Walt bekanntermaßen für sich entscheiden, jedoch hat er zuvor schon solche Kämpfe verloren:

Bereits am Morgen nach dem Angriff auf Pearl Harbor schloss Walt Disney mit Vertretern der Navy den ersten Vertrag über eine Serie an Ausbildungsfilmen. Ziel dieser war es, das Militärpersonal darin zu unterrichten, woran US-Flugzeuge von denen des Feindes unterschieden werden können. Aufgrund des sehr niedrigen Budgets sowie strenger Restriktionen der Navy, wie diese Trainingsfilme abzulaufen haben, produzierten die Disney-Künstler Storyboards wie am Fließband. Als Walt wenige Tage nach Produktionsbeginn diese überprüfte, merkte er an, wie trocken die daraus entstehenden Filme sein müssten, und dass sie die Jungs vom Militär höchstens in den Schlaf versetzen werden. Nach einer von höheren Navy-Mitgliedern besuchten Vorführung von rund 40 Minuten Ausbildungsmaterial ergriff Walt letztlich die Initiative: "Vielleicht können wir dieses Zeug etwas auflockern, indem wir eine kleine Geschichte mit Donald Duck einbringen? Könnten wir die Ente nicht als Dienenden verkleiden, und könnte er diese Dinge nicht erklären und, vielleicht macht er es anfangs falsch und dreht durch, weil auf ihn geschossen wird, doch später bekommt er es endlich raus, wie man es richtig macht ... Vielleicht bringen ihm seine Neffen bei, wie es richtig geht. Können wir nicht so etwas in Angriff nehmen?"

Um es kurz zu machen: Walt erhielt eine regelrechte Standpauke, dass er den Ernst der Lage nicht erkenne, und derart wichtige Dinge mit Späßen untergraben wolle. Außerdem müsse er sich nicht sorgen, dass Auszubildende beim Angucken dieser Filme einschliefen, da sie mit Ambition daran herantreten würden. Walt habe noch ein paar Mal versucht, die Navy umzustimmen, dann aber letztlich aufgegeben.

Mit Fortlaufen des Krieges lernte das Militär allerdings, wie Trainingsfilme und seine Kontakte in Hollywood anzugehen sind, so dass spätere Trainingsfilme unterhaltsamer gestaltet werden durften. Disney expandierte derweil über das Militär hinaus und produzierte zum Beispiel auch Lehrfilme für Firmen wie General Motors, die teilweise noch bis heute in der Ausbildung Verwendung finden.


Wie Walt Disney selbst erklärte, nutzen seine Lehrfilme das Medium des Zeichentricks, um Aufmerksamkeit und Interesse zu stimulieren. Ihm selbst war besonders viel daran gelegen, wichtige Dinge von allgemeiner Bedeutung aufzugreifen und diese Themen für Menschen attraktiv zu machen, die mit ihnen eingangs nicht viel anfangen konnten. Nach dem Erfolg der Disneyland-Ausgaben zum Thema-Weltraumforschung, ging man im Studio auf Ideensuche nach weiteren Themen für lehrreiche Sendungen. Eine dieser Ideen wurde The Magic of Mathematics betitelt, allerdings sah Walt darin größeres Potential und wollte dem Projekt durch eine Kinoveröffentlichung einen größeren Rahmen bieten, selbst wenn ihm von allen Seiten beteuert wurde, dass dies zu einem Verlustgeschäft würde.

Walt erhielt aber seinen Willen und setzte den Meisterwerk-Macher Hamilton Luske als das gesamte Projekt leitenden Regisseur und Wolfgang Reitherman, Les Clark sowie Joshua Meador als Sequence Directors an. Milt Banta, Bill Berg und Heinz Haber leiteten die Story-Entwicklung. Schnell waren sich alle einig, dass der Film Donald Duck in der Hauptrolle haben sollte, weil das Publikum aus dem Stand heraus ansprach und mit einer Mischung aus Neugierde, Begeisterungsfähigkeit sowie Widerstreben/Ignoranz einen guten Touristen durch den Irrgarten mathematischen Wissens abgäbe. Im gleichen Zuge legte man fest, dass Donald durch einen aus dem Off sprechenden Erzähler unterrichtet werden sollte. Die Off-Stimme hatte sich bereits in vielen Disney-Lehrfilmen sowie den How to ...-Goofy-Cartoons als Stimme der Autorität erwiesen, außerdem ersparte ein Off-Kommentar die Notwendigkeit, eine neben Donald agierende Figur zu entwickeln, zu zeichnen und sie in Interaktionen mit Donald zu verwickeln. Der Off-Sprecher konnte Donalds Handeln kommentieren, ihn auch bei Gelegenheit etwas verhöhnen, konnte sich die meiste Zeit jedoch auf die Wissenslektionen konzentrieren. Die Wahl fiel auf Paul Frees, der schon im Donald-und-Goofy-Cartoon Crazy Heat sowie zahlreichen Disneyland-Episoden zu hören war.

Frees spricht in Donald in Mathmagic Land den wahren Geist des Abenteuers, dem Donald während einer Safari begegnet, die ihn in ein surrealistisches Wunderland voller geometrischer Formen und skurrilen Wesen führte. Der Geist verspricht Donald, ihn in ein aufregendes Abenteuer zu führen, nämlich die Welt der Mathematik. Donald fühlt sich verschaukelt und keift den Geist an, doch dieser weckt Donalds Wissbegierde, als er ihm erklärt, dass Mathematik und Musik eng zusammengehören. Zum Beweis entführt der Geist des Abenteuers Donald ins antike Griechenland, wo Pythagoras herausfand, dass die Länge einer Saite mit der Höhe der mit ihr erzeugbaren Töne zusammenhängt. Donald und der Geist besuchen heimlich ein Treffen des großen Vordenkers und seiner Anhänger, als Donald deren improvisierte Musikstunde ordentlich aufpeppt. Es folgt eine kurze Lektion über die Form des Pentagramms, dem geheimen Zeichen der Pythagoräer, sowie über den "goldenen Schnitt", der im Ästhetikempfinden der alten Griechen eine bedeutsame Rolle spielte und seither in Kunst und Architektur nahezu überall wieder zu finden ist.

Diese Jam-Session erinnert ein wenig an Toot, Whistle, Plunk and Boom und übernimmt auch den Running Gag, dass beim Zupfinstrument zum Schluss einer Szene eine Saite reißt

Donald, der alte Hund entdeckt auch sein Schürzenjägertum aus  Drei Caballeros-Tagen und hechelt einer Frau mit perfekten Proportionen nach, mit der Begründung, dass er diese Form von Mathe richtig gern hat. Eine kurze Bilderschau zeigt, dass die Natur mathematisch perfekt berechnet und arrangiert ist (Donald hingegen nicht), daraufhin wird Donald in eine Reihe von Spielen und Sportarten versetzt, die mit Mathematik zusammenhängen. Dabei lässt der Geist es sich auch nicht entgehen, Donald als Alice verkleidet in eine Schachpartie zu ziehen, die an die Werke Lewis Carrols angelehnt ist. Sehr ausführlich ist ein Segment über Billard, bei dem Hobbyspieler einige wertvolle Profitipps für das Berechnen der richtigen Anstoßwinkel erhalten. Abschließend erklärt der Geist Donald, dass die menschliche Vorstellungskraft mit Hilfe der Mathematik die bahnbrechendsten Erfindungen machen kann.


Das Schachspiel zwischen zwei feindseligen Parteien, das generelle Grundgerüst des Films über eine Figur aus der normalen Welt, die in ein Land der Skurrilitäten stolpert und auch die Gestaltung der mathemagischen Wunderwelt erinnern nicht von ungefähr an Alice im Wunderland. Diese Parallelen dürften angesichts der Filmemacher nicht überraschen, waren die Regisseure und viele Mitglieder des gestalterischen Personals zuvor an eben jenem Film beteiligt. Allerdings liegt hier nicht bloß ein simpler Fall des Selbstplagiats vor. Viel eher ist es ein schlüssiges Konzept, das die hinter dem Film steckenden Vorhaben unterstützt: Es wird suggeriert, dass Mathematik eine faszinierende, wundersame Sache ist. Die obskuren Entdeckungen Donalds zu Beginn sprechen zudem Mathemuffel an, da Donald dieser seltsamen Welt genauso ratlos gegenübersteht, wie Mathehasser gegenüber Dingen wie Pi und Quadratwurzeln. Da Mathe im Laufe des Films mit Begeisterung begreifbar gemacht wird, bleibt das faszinierende Element bestehen, das verwirrende hingegen ebnet ab. Und auch Donalds ungewöhnliche, an Cast Member aus dem Disneyland-Part Adventureland erinnernde, Kleidung während der Eröffnung des Films kommt nicht von ungefähr: Sie verspricht Spannung, weckt abenteuerliche Assoziationen. Alles zusammen hat zur Folge, dass Donald in Mathmagic Land aufregend und kurzweilig erscheint, statt sich gleich zu Beginn als spröde Lehrstunde zu verkaufen.



Oben: Donald trifft auf ein Wesen, das genauso gut in Alice im Wunderland aufkreuzen könnte
unten: Dieses Kerlchen zitiert die Zahl Pi nur bis zur 13. Nachkommastelle richtig

Donald in Mathmagic Land feierte am 26. Juni 1959 seine Premiere und trat 1960 bei den 33. Academy Awards in der Kategorie "Beste Kurz-Dokumentation" an, die in den Vorjahren stark mit Naturdokumentationen und Kultur-/Landesreportagen (auch aus dem Hause Disney) besiedelt war. Neben Donalds zweitem mit einer Oscar-Nominierung im Dokumentarbereich gewürdigtem Film erhielt auch From Generation to Generation Berücksichtung durch die Academy. Diese Kurzdoku handelt von einer Bauernfamilie, die noch ohne Elektrizität lebte, und davon, wie sie sich durch die Jahre schlägt und Nachwuchs erhält. Außerdem wurde die niederländische Dokumentation Glass nominiert. Der visuell beeindruckende Einblick in die Glasflaschenindustrie, der nonverbal den Unterschied zwischen maschinell hergestellten und handgefertigten Flaschen aufzeigt, war es auch, der mit der Statuette prämiert wurde.

Walt Disney war begeistert von Donald in Mathmagic Land und sah ihn als Prototypen dafür, was er und sein Studio dem Lehrwesen schenken könnten. Im Kino feierte dieses Projekt aber nur bedingten Erfolg: Der Film kam zwar sehr gut bei seinem Publikum an, allerdings konnte Disney ihn aufgrund seiner Länge nur begrenzt an Kinos vermitteln. Dort lief er im Vorprogramm des Fantasyfilms Das Geheimnis der verwunschenen Höhle. Jedoch konnte Disney Donald in Mathmagic Land als 16mm-Kopie sehr gut an Schulen losschlagen, wo er mit seinen 27 Minuten Laufzeit perfekt in eine Unterrichtsstunde passte und für mehrere Jahrzehnte als Standardwerk vorgeführt wurde. Darüber hinaus war er 1961 der erste Film, der im Rahmen von Walt Disney's Wonderful World of Color gezeigt wurde und somit die erste Disney-Kinoproduktion, die es als Farbfilm ins Fernsehen schaffte.

Im August 1959 veröffentlichte Dell ein einmaliges Comic-Sonderheft unter dem Titel Donald in Mathmagic Land, dass mehrere kürzere, Mathe thematisierende Geschichten, sowie eine freie, 30-seitige Adaption des Kurzfilms enthielt. Der Mathemagie-Comic von Autor Don Christensen und Zeichner Tony Strobel verpasst Donalds Ausflugs ins zahlenreiche Wunderland eine Rahmengeschichte: Dagobert verlangt von seinem Neffen absurd hohe Zinsen für einen geliehenen Kleinbetrag, so dass sich seine Schulden trotz regelmäßiger Rückzahlung bloß vergrößern. Während der nächtlichen Lektüre eines Nachschlagewerks reißt Donald der Geduldsfaden, was den Geist der Mathematik erzürnt. Der Comic widmet der Geschichte der Mathematik mehr Aufmerksamkeit, indem er die Entwicklung des Zahlensystems und der Geometrie anschneidet, dafür fallen die Exkurse in die Bereiche Musik, Geometrie der Natur und Billard sowie auch die Vorführung großer Erfindungen kürzer aus.


Weil sich die Produktion besonders ambitionierter Lehrfilme sehr zu Walts Enttäuschung kaum rechnete, konnte er auch nach Donald in Mathmagic Land nur sporadisch solche Produktionen ins Kino entlassen. Die von ihm erträumte Massenproduktion ähnlicher Filme kam nie zu Stande, weil es ein zu großes wirtschaftliches Risiko für die Studios gewesen wäre und man es ihm nie erlaubt hätte. Ein paar Ausreißer gab es dennoch: 1961 folgten zum Beispiel noch Donald and the Wheel sowie The Litterbug (in welchem Donald über Umweltverschmutzung aufklärt), während Goofy 1965 in Freewayphobia über Sicherheit im Straßenverkehr referierte. Goofy, Micky, Donald und Co. verlagerten sich in den 60ern endgültig ins Fernsehen, während Walt Disney vor seinem Tod die Produktion kurzer Kinofilme mit Adaptionen von Winnie Puuh anleiherte. Die Geschichten mit dem dummen, alten Teddybären begeisterten das Publikum, doch er sollte den Oscar-Erfolg dieser Figur nicht mehr miterleben.

Mit sinkender Rentabilität von Kurzfilmen versiegte auch mehr und mehr die Menge an neuen Disney-Cartoons. Die wenigen Auftritt der alten Cartoonriege hatten Micky als Hauptfigur und Donald, wenn er denn mitspielt, nur als Nebenrolle. Auf einen neuen Kinokurzfilm mit dem Wüterich in der Hauptrolle gilt es noch zu warten. Und sollte jemals einer erscheinen und eine Oscar-Nominierung erhalten, so erwartet euch auch eine neue Ausgabe von Entengold ...

Donnerstag, 26. April 2012

Disneyland°2 - Storybook Land Canal Boats & Le Pays des Contes des Fées

Welcome, foolish mortals!

Disneyland Paris feiert sein 20-jähriges Jubiläum, und während ich es kaum erwarten kann, die großartig angekündigte neue Wassershow Disney Dreams! selbst zu sehen, ist dies für mich die ideale Gelegenheit, den hiesigen Park mit dem Anaheimer Original zu vergleichen.



Wenn man von den Märchenfahrten in Disneylands Fantasyland redet, wenden sich die Gedanken den großen Klassikern wie Peter Pan‘s Flight und Blanche Neige et les Sept Nains zu. Die Bahn, die mit Abstand am meisten der Disney-Märchen in sich vereint, wird dabei meist sträflich vernachlässigt.


Paris
Die Storybook Land Canal Boats waren eines der ältesten Konzepte in Walt Disneys Plänen für einen Freizeitpark. Er kam auf die Idee durch den Besuch von Madurodam, einem Miniaturpark in den Niederlanden, und so ist dies wohl der eigentliche Ursprung aller Disney‘schen Dark Rides.
Die langsame Wasserfahrt, die den Besucher an winzigen Nachbauten der ikonischsten Disney-Szenen vorbeiführt, hat einen sehr viel beschaulicheren Charakter als ihre großen Geschwister. Dazu kommt die Tatsache, dass es sich um eine der wenigen Freiluft-Bahnen handelt, was sie zu etwas wirklich Besonderem macht - und gerade am späten Abend, wenn der Park in Dunkelheit versinkt, ist die romantisch beleuchtete Fahrt einfach traumhaft.


Anaheim
Die Inspiration aus London

 















In der Anaheimer Version wird jedes der Boote von einem eigenen Crewmitglied begleitet, das die Zuschauer mit augenzwinkernden Kommentaren durch die liebevoll aufgebauten Landschaften führt.
Dass diese Begleitung in Paris fehlt, ist wohl einer der auffälligsten Unterschiede zwischen den Bahnen. Insgesamt hat man beim Pariser Park ja aus sprachlichen Gründen darauf geachtet, dass die Attraktionen mit sehr viel weniger Erzählung auskommen und ein Amerikaner wird das Ergebnis vielleicht als etwas karg empfinden. Doch gerade eine Bahn wie diese kommt meiner Meinung nach wunderbar ohne Erläuterungen aus, à là „Das ist die Stelle, wo X passiert ist - Wahnsinn, oder?“, und so bin ich für die hiesige Ruhe während der Fahrt dankbar.
Dafür ist es in Paris allerdings auch nicht möglich, die Bahn bei Sternenlicht zu genießen; dafür sorgt ein extrem versteckter Standort, der mühelos schon am frühen Abend geschlossen werden kann - von den Wintermonaten ganz zu schweigen.


 
Le Pays des Contes des Fées ist in allen Disney-Parks der einzige Nachbau der Fahrt, doch das heißt keineswegs, dass es sich bei der Pariser Bahn um eine einfache Kopie handelt. Die dargestellten Märchen sind ebenso unterschiedlich wie die Fahrten selbst, auch wenn gute Ideen durchaus wiederverwendet werden - so werden die Besucher der Anaheimer Bahn gleich zu Beginn von Monstro, dem Wal verschlungen, während sie in Paris durch den Tigerkopf in die Wunderhöhle eintauchen.

Doch auch wenn einzelne Bauten wie das Schloss von Prinz Eric oder der Stollen der Zwerge in beiden Fahrten auftauchen, so haben die Szenerien sonst wenig gemein: In Anaheim gibt es naturgemäß eher ältere Klassiker zu sehen wie die Hütten der drei Schweinchen, das Anwesen von Thaddäus Kröte oder Pinocchios Dorf, während sich die Pariser Version mehr Mühe macht, die Filme der Neunziger ins Rampenlicht zu rücken. Aber auch in Paris kommen alte Filme wie Fantasia oder Peter und der Wolf zu ihrem Recht, und nach einigen Updates jüngeren Datums sind auch in Anaheim der Palast des Sultans und König Tritons Schloss zu sehen. 

Und wer kann auf den ersten Blick sagen, welches dieser Schlösser zu welchem Märchen gehört? Kleiner Tip: Man suche nach der Kürbiskutsche bzw. nach der am Dorfbrunnen lesenden Belle im Vordergrund.



Eine Besonderheit der Pariser Bahn ist wohl, dass sich einzelne Szenen entdecken lassen, die nicht aus einem Disneyfilm stammen, nämlich das Hexenhaus, das Hänsel und Gretel verführt, und Rapunzels Turm.
Nun ja, das heißt wohl eher, die nicht aus einem Disneyfilm stammten. Wie wir alle wissen, hat Rapunzel vorletztes Jahr einen triumphalen Einzug in den Disney-Kanon gefeiert, und seitdem wurde auch dieser Attraktion ein Update gegönnt, inklusive sich hochhangelndem Flynn. Meiner Meinung nach war es eine wunderbare Gelegenheit, Disneys neuestes Märchen in die „alten“ Attraktionen einfließen zu lassen; ein Schritt, der ansonsten wohl noch auf sich warten lassen würde.

Im Endeffekt bieten die zwei Inkarnationen des Märchenlandes trotz gleicher Struktur zwei grundverschiedene Bahnen, die beide diverse Vor- und Nachteile haben. Das größte Manko an der amerikanischen Version liegt für mich bei den etwas penetranten Kommentaren der Bootsbegleiter, in Paris frage ich mich dagegen jedes Mal, wie man die Gelegenheit verpassen konnte, Charnabog an den ihm gebührenden Platz auf die Felsenspitze zu setzen.


Insgesamt sorgt der einzigartige Anblick, den Aladdins Passage und Kensington Gardens bei Nacht bieten dafür, dass ich in diesem Fall dem Original den Vorzug gebe.


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Dienstag, 24. April 2012

Marvel's The Avengers


Als Marvel im Sommer 2008 Iron Man ins Kino brachte, war ein Avengers-Film noch optimistische Zukunftsmusik. Zwar hatte der Comicgigant für sein Filmstudio dank einer kräftigen Finanzspritze die produktionstechnische Unabhängigkeit von den großen Hollywood-Studios erlangt (bloß der Vertrieb musste noch in die Hände anderer gelegt werden) und die Idee ersonnen, sich Stückweise einer filmischen Zusammenkunft seiner größten Helden zu nähern, dennoch musste erst Iron Man-Regisseur Jon Favreau ankommen, um für die Post-Abspann-Sequenz eine augenzwinkernde Ankündigung dieser Pläne vorzuschlagen.

Dann aber schlug Iron Man an den Kinokassen unerwartet furios ein, Marvel bewies sich auf dem Parkett der Kino-Produktionsfirmen und ein Avengers-Kinofilm war bloß noch eine Frage der Zeit. Kurz nach Iron Man beschränkte sich Der unglaubliche Hulk noch auf Anspielungen, doch die drei nächsten Marvel-Filme hatten eine klare Mission. Sie deuteten die Formierung der Avengers an, gaben Hinweise auf Plotpunkte, brachten einem weniger comicerfahrenen Publikum die großen Helden des Avengers-Teams nahe, überzeugten Comicfans von deren Realfilm-Interpretation und brachten die Figuren vor allem auch in eine ansprechende Startposition für das gewaltige Crossover.

Nach Thor und Captain America bestanden zahlreiche Möglichkeiten, wie und wo The Avengers seinen Anfang nehmen könnte. Am wahrscheinlichsten schien aufgrund der Popularität der Iron Man-Filme, dass der neue Marvel-Vorzeigestar den Film eröffnet und so den Großteil des Publikums direkt für das Spektakel einnimmt. Auch Downey Jr. soll diese Lösung vorgeschlagen haben, erkannte jedoch, dass es für das Konzept schädlich wäre. Regisseur Joss Whedon versprach vorab, dass der Fokus erzählerisch zu einem höheren Grad auf Captain America gelegt wird, weil die Gesamtsituation für ihn am befremdlichsten erscheinen muss. Da Captain America darüber hinaus zum Schluss sehr fließend von einem Zweiter-Weltkrieg-Comicactionabenteuer in einen Avenger-Prolog übergeht, schien ein Einstieg mit dem Captain überaus plausibel.

Aber Nerd-Liebling Joss Whedon, der Regie führte und auf Basis einer Story von Zak Penn das Drehbuch verfasste, war weise genug, nicht speziell ein Mitglied des großen Helden-Teams in die Frontposition zu stellen. Schließlich heißt der Film The Avengers und nicht Iron-Man und seine Super-Freunde oder Captain America und seine illustren Gegenwartssoldaten. Ihren Anfang nimmt diese an Schauwerten überbordende 220-Millionen-Dollar-Produktion deswegen bei keinem von Marvels heroischen Einzelgängern, sondern im Hauptquartier von S.H.I.E.L.D., wo ein Team von Wissenschaftlern den Cosmic Cube aka Tesserakt untersucht. Die blau glühende, grenzenlose Energiequelle öffnet ein Portal zu einem anderen Teil der Galaxie, aus dem der nach Vergeltung und Macht dürstende Loki schreitet, welcher wiederum seit seinem Sturz aus Asgard einen düsteren Pakt mit einer außerirdischen Streitmacht verfolgt. Loki stiehlt den Tesserakt und lässt selbst einige der besten S.H.I.E.L.D.-Agenten im Kampf gegen ihn alt aussehen, weshalb Geheimdirektor Nick Fury nur noch einen Ausweg sieht, um die Unterwerfung des Planeten abzuwenden: Er muss die Avenger-Initiative aktivieren!

Nachdem bekannt wurde, dass Loki der zu bezwingende Oberschurke in The Avengers sein wird, zeigte ich mich zunächst misstrauisch. In Thor erschien mir der lügnerische Bruder Thors als vergleichsweise uninteressanter sowie schwacher Schurke, vor allem aber nervte mich, wie sehr sich die Feuilleton-Kritiken des Films darauf versteiften, ihn als tragischen Shakespeare-Antagonisten zu skizzieren. Bloß weil es in Thor um die Rivalität zweier Brüder geht und der viel diskutierte Shakespeare-Regisseur Kenneth Branagh die Heldengeschichte inszenierte, bedeutet das doch nicht gleich, dass Loki auch gleich derart gelungene Ausmaße aufweist. Dazu fand ich Tom Hiddlestons Darbietung doch zu bemüht und das Skript in dieser Hinsicht zu flach.

Jedoch konnte die massive Promotionarbeit hinter The Avengers meinen Unmut in vorfreudige Erwartung ummünzen. Ein früher Trailer zeigte Tom Hiddleston als selbstbewussten, Intrigen spinnenden Oberschurke im Verhör mit Samuel L. Jacksons eiskaltem Nick Fury. Und was mir an Hiddleston in Thor fehlte, kam in diesem kurzen Filmausschnitt zur Geltung: Die oberflächliche Verletztheit wich einer unterschwellig brodelnden Enttäuschung eines verstoßenen Sohnes, die sich in einer berechnenden, vorgekehrten Egomanie äußerte. Ja, Lokis antreibendes Schicksal wurde inhaltlich stärker zurückgedrängt, aber daraus formierte sich ein durchaus mehrbödigeres, vor allem aber auch boshaft-cooleres Schauspiel, was ich dem abgegriffenem und nicht sonderlich fundiert ausgespieltem "Mein Papa zog meinen Bruder immer vor!"-Ansatz aus Thor klar vorziehe. Gerade bei dieser Art Film.

Und die Werbung hat nichts falsches versprochen: Käme mir der Thor-Loki noch ein Stück zu schmalspurig vor, um ein Stelldichein der größten Marvel-Helden (an denen die Marvel Studios die Lizenz halten) zu rechtfertigen, ist der The Avengers-Loki ein gebührender Schurke für das erste Realfilmhelden-Mega-Crossover. Dass seine Verbündeten dem weniger comicaffinen Publikum nicht näher vorgestellt werden, raubt ihnen wiederum etwas Schrecken, allerdings genügen schon ihr Look und ihre Ausrüstung, um im Finale für genug Nervenkitzel zu sorgen.

Darüber hinaus stellt in The Avengers die größte Bedrohung nach Loki eh die Inkompatibilität der einzelnen Team-Mitglieder dar, was nder wichtigsten Clous dieses Films darstellt. Denn nach Iron Man 1 & 2, Der unglaubliche Hulk, Thor und Captain America hätte man sich auf der bereits geleisteten Figurenzeichnung ausruhen und schlichtweg mehr als zwei Stunden Action und lockere Sprüche abfeiern können. Bloß wäre da der "Superhelden mit Superproblemen"-Aspekt flöten gegangen, wodurch The Avengers vielleicht visuell atemberaubend geworden wäre, inhaltlich aber auch zu einer reinen Nullnummer. Was einem Betrug an der Vorlage gleichkäme, denn wie Stan Lee so gerne erklärt, sind die Avengers in erster Instanz runde Figuren und erst sekundär Superhelden. Dem nimmt sich Joss Whedon an, und führt durch die teaminternen Querelen einen klaren Handlungsbogen ein, sorgt für ordentlich Konfilktpotential und somit auch für eine inhaltliche Stütze der Action-Dramaturgie. Nach vielleicht einer halben Stunde ist The Avengers zwar Action pur, doch in dieser geht es noch immer um die Stärken und Schwächen der einzelnen Helden sowie darum, wie sie sich zu einer Einheit bilden müssen. Dadurch ist die Zerstörungsorgie in The Avengers zwar genauso megalomanisch wie die eines Transformers-Films, aber auch tatsächlich spannend, statt nur zu ermüden. Denn sie zeigt die Rückschläge und Fortschritte der divenhaften Super-Egos mit Superfähigkeiten.


Obwohl (oder gerade weil?) in The Avengers mehr Figuren denn je im Marvel-Universum zu berücksichtigen sind, tappt dieser Superheldenfilm nicht in die gewohnte narrative Falle, nicht zu wissen, wie die beeindruckendsten Szenen über die gesamte Laufzeit verteilt werden sollten. Viele Marvel-Filme hatten entweder das Problem, dass sie ihr Pulver vorab verschossen, so dass das Finale abgehetzt wirkte (so sind die ersten zwei Drittel eindeutig das Coolste an Iron Man) oder aber sie sparten sich im zweiten Akt einiges an Action auf, um so das Finale aufzuplustern, was jedoch zu einer zähen Hinleitung zum Finale führte (ich finde zum Beispiel die ganzen S.H.I.E.L.D.-Debatten und Tonys kurze Sinnkrise in Iron Man 2 dramaturgisch schlecht erzählt).

Solche schleppenden Momente gibt es in The Avengers nicht zu erdulden, weil Joss Whedon trotz hoher Laufzeit die Zügel sehr straff in den inszenatorischen Händen hält. Schon der Prolog lässt es ordentlich krachen, dann folgt die sehr vergnügliche Zusammenstellung des Avenger-Teams und schon folgt ein mordsmäßiger zweiter Akt mit gewaltiger Action, einer rasant tickenden (sinnbildlichen) Zeitbombe und sich sehr natürlich entwickelnden Konfliten zwischen den Helden. Hier könnte der Film eigentlich schon sein Ende nehmen, aber dann legen die Marvel Studios noch einen noch überwältigenderen letzten Akt nach.

Wenn es nennenswerte zeitliche/erzählerische Probleme gibt, dann nur mit Thors Ankunft: Wird die Erläuterung, wie der Gott des Donners nach den Ereignissen in Thor zurück auf die Erde fand, viel zu hektisch abgehandelt, gerät die anschließende Actionsequenz fast zum Selbstzweck. Zwar versinnbildlicht sie einige der zu überkommenden Probleme unserer Helden, aber in ihrer Ausführlichkeit schwingt auch klar der selbstorientierte Fangedanke mit. Die Szene spielt sich in ihrer Form bloß ab, weil sie sich so abspielen kann. Whedon zwar findet rechtzeitig einen beeindruckenden Ausstieg, trotzdem ist diese Actioneinlage haarscharf vorm überkippen. Sofern man ganz kritisch rangeht, statt einfach die Schau zu genießen.

Von diesen wenigen Minuten abgesehen, lässt sich klar statuieren: Weil auch die lärmendste Action in The Avengers nicht nur zum demolierenden Selbstzweck dient, sondern auch für die Figuren Relevanz hat, übereizt sich die gebotene Aneinanderreihung von Superlativen keineswegs, sondern bietet knallige Unterhaltung auf durchdachtem Niveau. Nicht nur, dass Whedon die Action sehr gut mit witzigen, dramatischen, sympathischen oder coolen Charaktermomenten austariert; sie ist auch dramaturgisch straff erzählt und spitzt sich konstant zu.

Das alles hängt auch davon ab, dass die Avengers, unter Berücksichtigung des Rahmens ihrer Fähigkeiten, gleichwertige Aufmerksamkeit erhalten. Zwar sind etwa ein Thor und ein Hulk schwerer verwundbar als ein Captain America oder gar ein Hawkeye, jedoch bedeutet das nicht, dass manche awesentlich heldenhafter dargestellt werden als andere. Jeder der Avengers erhält seine eigene, kleine Krise (die niemals übertrieben oder vom Drehbuch herbeigezaubert wirkt) und genauso wird jedem ein verdienter heroischer Moment zugespielt. Niemand wird übervorteilt, und so kann man sich als Fan der Pre-Avengers-Filme entspannt zurücklehnen und das Stelldichein der Superhelden genießen. Am besten gefiel mir die gleichermaßen witzige, wie auch durchaus feinfühlige Interaktion zwischen Tony Stark und Bruce Banner. Dass Stark sich über Banner mokiert, ihm aber auch einen Einblick in seiner verletzlichere Seie gewährt, ist charakternah, kurzweilig und schröpft auch seinen Vorteil aus der Kameradschaft zwischen Robert Downey Jr. und Mark Ruffalo. Überhaupt erhielt das bisherige Avenger-Sorgenkind Hulk einige der für mich denkwürdigsten Szenen. Aber auch Captain America hat mich einige Male zum Grinsen gebracht, was ja angesichts seines etwas steiferen Charakters nicht unbedingt so naheliegend war.


Des Weiteren ist beachtenswert, wie viel Zeit den Figuren "aus der zweiten Reihe" gegönnt wird. Manch grummeliger Zuschauer wird vielleicht argumentieren, dass dadurch Aufmerksamkeit von den Stars abweggelenkt wird, ich aber empfinde dies als genialen Schachzug. Da die russische Agentin Black Widow, der Pfeil-und-Bogen-versierte Scharfschütze Hawkeye und Agent Phil Coulson ihre eigenen kleinen Mini-Arcs erhalten, wird in The Avengers konstant Charakterbildung betrieben, obwohl ja die prominentesten Figuren schon zu einem fortgeschrittenen Entwicklungsgrad in den Film treten. Es ist kurzweilig für Fans und gleichwohl ein Service für Kinogänger, die nicht alle Teile des "Marvel Cinematic Universe" kennen. Diese verschieben ihr Augenmerk halt etwas stärker auf die Figuren, von denen sie in diesem Film an der Hand genommen werden.

Sie werden vielleicht mit weniger bekannten, nicht aber mit weniger interessanten Figuren abgespeist. Black Widow durfte zwar schon in Iron Man 2 Präsenz zeigen und auch ein wenig austeilen, aber erst hier entwickelt sie sich von einer The Avengers-Ankündigung auf zwei Beinen (und in engen Klamotten) zu einer kessen Figur. Joss Whedon versteht halt seine starken Frauenrollen, und in ihrer Eröffnungsszene schwingte für mich auch ein wenig Alias-Feeling mit. Hawkeye, der in Thor nur ein paar Sätze verlor, zeigt nun ebenfalls seine volle Coolness und Jeremy Renner versucht, nonverbal seiner Rolle so viele Ecken und Kanten zu verleihen, wie es ihm seine Leinwandzeit erlaubt.

Aber mein heimlicher Held ist ganz klar Clark Gregg als Phil Coulson: Ein schlichter, bodenständiger, ganz normaler Regierungsbeamter, in dem ein feuriger Verehrer all der ihn umgebenden Weltenretter und Superhelden schlummert. Aber er muss dies etwas unterdrücken, um effizient mit ihnen umzugehen. Er ist so etwas wie der seinen Job liebende, doch mindestens genauso staubtrockene und dadurch etwas rigide wirkende Tourmanager einer Rockband voller Diven, Machos, Angeber und Spinner. Da er einen Sinn für Humor hat, ahnt man, dass er gar nicht mal so scharf darauf ist, den normalen Buben abzugeben. Jedoch ist er halt einfach nicht so exzentrisch wie seine Arbeitskollegen. Außerdem muss ja einer den die Chaostruppe dirigierenden Spießer geben. Und wer, außer Phil, soll das schon übernehmen? Nick Fury? Also bitte! Der ist zu sehr damit beschäftigt, eine Aura der Obercoolness zu verbreiten, badass dreinzublicken und wie Samuel L. Jackson auszuehen. Und Maria Hill? Pfff, die ist zu sehr davon abgelenkt, lockere Sprüche zu beantworten.

Zum Abschluss muss ich noch bezüglich der Technik in Euphorie ausbrechen: The Avengers sieht geil aus und klingt auch so! Die Effekte sind makellos und der Oscar-nominierte Seamus McGarvey (Abbitte) sorgt für überwältigende Bilder, die dennoch immer die Übersicht des Geschehens gewähren. Er adaptiert gewissermaßen einen Comicstil. Nicht indem er deren Aufbau imitiert, sondern deren Wirkung adäquat nachahmt: Mehrere ausführliche Kameraschwenks und Weitwinkelaufnahmen, die alle Avengers stattlich in Szene setzen, erinnern mit ihrer ikonischen Visualität und Dynamik am Splash Pages oder energetisch aufgetelte Panels.
Komponist Alan Silvestri kehrt nach Captain America ins Marvel-Universum zurück und entfesselt eine wuchtige, von Charakterthemen durchzogene Filmmusik. Die Songauswahl rockt ebenfalls – ich sehe mich gezwungen, gleich zwei Soundtrackalben zu kaufen, einmal die Scheibe mit den Songs und einmal den Score.

Außerdem muss ich noch eine Gegenstimme zu den vielen Anti-3D-Comicnerds bieten. Bei John Carter kann ich es ja nachvollziehen, wenn man sich auf Andrew Stantons Seite schlägt, und lieber eine 2D-Vorführung besucht. Doch Joss Whedon machte in Interviews klar, dass The Avengers seiner Ansicht nach von 3D profitiert, weil er eh eine sehr räumliche Bildästhetik hegt und diese durch die zusätzliche Dimension besser unterstrichen wird. Und dem kann ich nur beipflichten: Ich sah The Avengers in Dolby Digital 3D, das Bild war gestochen scharf, kristallklar, die Farben hell und kräftig und die Tiefenwirkung war impressiv. Seit längerem hat mich kein 3D mehr so umgehauen. Wer also immer predigt, man müsse Filme "so sehen, wie der Regisseur sie entwarf" (keine Zensur, keine Synchro), der muss sich The Avengers eigentlich in 3D ansehen. Aber gut, jedem das seine, polemisieren wir diesen Aspekt lieber nicht zu sehr.

Von manchen der Pre-Avengers-Filme war ich ja ein klein wenig enttäuscht. Unterhaltsam waren sie dennoch allesamt, und wie dieser Film beweist, haben sie sich definitiv gelohnt. Denn ohne sie wäre diese Bombastproduktion wohl nie entstanden. Und was unterhaltsame Popcorn-Superhelden angeht, greift The Avengers klar die Spitze an. Ich muss noch abwarten, wohin sich meine Meinung nach mehreren Sichtungen entwickelt, aus dem Hause Marvel zumindest hat mich allerdings noch kein Film beim ersten Mal so gewaltig umgenietet.

Montag, 23. April 2012

The Ring


Um meine Meinung zu The Ring in den richtigen Kontext zu rücken, muss ich wohl etwas weiter ausholen: Ich sah (wie wohl sehr viele andere) das US-Remake vor dem japanischen Original. Mir hat Gore Verbinskis letzter Film, bevor er wohl für den Rest seines Lebens als "der Regisseur von Fluch der Karibik" bekannt wurde, an und für sich sehr gefallen. Allerdings erschien es mir nahezu unmöglich, ihn auch für sich alleine stehend zu betrachten, denn die Parodie in Scary Movie 3 war einfach zu treffend, weshalb einige der nervenaufreibendsten Sequenzen von The Ring für mich ihre Wirkung verloren.

The Ring ist jedoch zu stark, um ewig unter der Blödeleien in Scary Movie 3 zu versacken, so dass ich mit etwas Abstand diesen modernen Horror-Klassiker wieder neu für mich entdecken konnte. Und da es der bislang letzte piratenlose Film von Gore Verbinski ist, den ich hier im Blog noch zu besprechen habe, möchte ich ohne weiteren Anlass einen weiteren Blick auf die Schauergeschichte vom tötenden Videoband werfen.

Die Story: Bevor du stirbst, siehst du den Ring
Nach dem mysteriösen Tod ihrer Nichte Katie erfährt die junge Journalistin Rachel Keller (Naomi Watts) von einer düsteren Legende, die unter Jugendlichen kursiert: Es soll ein verstörendes Video geben, das verflucht ist. Wenn man es sich ansieht, erhält man einen Telefonanruf, der einem ankündigt, in sieben Tagen zu sterben. Und bislang hielt die schaurige Telefonstimme jedes Mal ihr tödliches Versprechen ein.

Rachel geht diesem Gerücht nach und verfolgt die letzten Tage ihrer Nichte. Schließlich gelangt sie an die sagenumwobende Videokassette, schaut sich den surrealen, albtraumhaften Film an ... und erhält auch den geisterhaften Anruf. Die Uhr tickt unaufhaltsam, innerhalb einer Woche muss sie dieser Sache erfolgreich nachgehen ...

Ein Film zwischen den Zeiten
Wie schon erwähnt, sah ich das japanische Original erst nach Gore Verbinskis The Ring, was meine Rangfolge beider Filme mitbeeinflusst haben dürfte. In meinen Augen ist die Idee hinter diesem Stoff nämlich zwar Aufsehen erregend, nicht aber so stark, dass ich sie in mehreren Auslegungen sehen muss. Deshalb habe ich auch bislang einen Bogen um die Fortsetzungen (egal welches Herkunftslandes) gemacht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass nach einer Auslotung der Grundprämisse nichts vorhersehbares oder allein auf Schreckeffekte setzendes bei herauskommen kann.

Was ich damit aussagen möchte: Nachdem ich The Ring erstmal gesehen hatte, konnte ich mich nicht mehr so sehr auf die japanische Variante einlassen, wie ich mich etwa seit der 1993er Disney-Verfilmung von Die drei Musketiere auf zahllose andere Verfilmungen einlassen konnte. Hinzu kommt aber noch, dass Verbinskis und die japanische Fassung in ihrer Art des Horrors zwar sehr nahe sind, die Nippon-Variante jedoch stärker in Aspekte abrutscht, die ich persönlich weniger an dieser Filmgattung wertschätze. Im Original erzeugt Hideo Nakata sehr viel Anspannung dadurch, dass sich Dinge im Halbdunkeln abspielen und die Erwartungshaltung geschürt wird, jeden Moment käme es zu einem Jump Scare (welche wiederum meines Erachtens nach die billigste Form des Schreckens sind). Das ist zwar bei einmaliger Betrachtung Nerven aufreibend, sobald man es allerdings durchschaut hat oder den Film kennt schnell aufgebraucht, beim ersten Mal ist es schon bei Beginn des Abspanns schnell vergessen. Die parapsychologischen Elemente, die in der Protagonistenfamilie des Originals aufkommen, wollen mir ebenso wenig gefallen. Es ist einfach nicht so mein Geschmack.

Gore Verbinskis Interpretation der Geschichte setzt die Schwerpunkte etwas anders, dazu gleich mehr, darüber hinaus profitiert sie aber, wie ich finde, auch enorm von ihrem Veröffentlichungszeitpunkt. Dieser Gesichtspunkt ist selbstredend eher zufällig, und nicht der Verdienst der Filmemacher, dennoch beeinflusst er, wie ich The Ring rezipiere. Denn für mich ist The Ring der einzige bedeutungsvolle Horrorfilm, der exakt während der Übergangszeit vom analogen zum digitalen Zeitalter entstand, erschien und dies auch indirekt thematisierte. Es ist ein Produkt dieser kurzen Phase, wodurch sich auch Inhalt und Stimmung gegenüber des Vorgängers ändern. Nur zwei Jahre früher wären Videokassetten alltäglicher gewesen, wodurch in der sich der Geisterwelt weniger gewisseren US-Version sicherlich das Element der Medienangst überhand genommen hätte. Zwei Jahre später wären Videos ein totes Medium, weshalb die Grundidee schwerer zu akzeptieren gewesen wäre. Aber The Ring kam zum richtigen Zeitpunkt, nicht nur um seinerzeit zu funktionieren, sondern auch aus der heutigen Sicht, da er diese Übergangsphase auch ausstrahlt. Rachels Recherchen führen erst zu Bücherregalen, dann ins Internet. Sie hat mit monströsen Profi-Videogeräten zu hantieren, weshalb ihre Manipulationen des verfluchten Videos etwas manuelles erhalten, nach Handarbeit suchen. Dennoch existiert mit ihrem von Martin Henderson gespielten, Video-Freak-Kontakt auch ein digitales Element, weshalb die verfluchte Kassette etwas mystischer wirkt. Es ist ein bisschen so, wie in "Haunted House"-Filmen, die schließlich auch bevorzugt in alten Häusern spielen.

Ich befürchte, dass dieses Argument schwer nachzuvollziehen ist, dennoch verstärkt es meinen Genuss von The Ring. Er spricht aus und für eine Zeit, als Video nicht mehr aktuell, aber noch nicht tot war. Bänder waren kein cooles Novum mehr, doch noch präsent genug, um als Gefahr wahrgenommen zu werden. In der Art und Weise, wie Verbinski dies inszeniert, entwickelt es seine eigene, komplexe Stimmung. Und die ist einer der Gründe, weshalb mir dieser Film besser als das Original gefällt.

Kunst, Kommerz, Genrekompott: Der Verbinski-Effekt
Es dürfte kaum jemanden noch überraschen: Selbstredend stellen die Regieführung, die daraus resultierende tonale Ambiguität und der abwechslungsreiche, dennoch in sich abgerundete Stil für mich das Hauptargument dar, weshalb ich The Ring eher zugeneigt bin als seiner japanischen Vorlage (welche ja wiederum eine Buchverfilmung ist, selbst wenn dieser Fakt gerne vergessen wird).

Während sich das Original eigentlich durchgehend als Horrorthriller goutieren lässt, wechselt Verbinski häufiger, doch stets in fließend-sanfter Bewegung, die Gangart: Vom Psycho- zum Horrorthriller, dann wird die journalistische Detektivarbeit Rachels stärker in den Vordergrund gekehrt, dann mutet Ring mehr nach einem (übernatürlichen) Familien-Drama an. Ab und an gibt es auch sehr behutsam eingesetzten Humor, der aber nie vom Schrecken der Geschichte ablenkt. So einen Genre-Mischmasch kann man lästig finden, aufgrund der Versiertheit, mit der dieser bei The Ring umgesetzt wird, gewinnt der Film meiner Meinung nach dagegen an Reichhaltigkeit. Die Drama- und Krimi-Elemente verwurzeln zudem die spinnerte Grundidee stärker in der Realität.

Verbinskis ambitionierte Inszenierung verleiht diesem Remake auch ein künstlerisches Flair, welches in den nach The Ring aufgekommenen Neuverfilmungen von Nippon-Horrorfilmen fehlte. Die kunstvollere Mise-en-scène wirkt zugegebenermaßen manchmal aufgesetzt, hat aber stets auch eine verlockende Klasse. Ganz besonders gefällt mir, wie nur in ausgewählten Szenen das Nasskalte der blaugrünen Farbästhetik dieses Films durchbrochen wird, um ein einzelnes Element hervorzuheben oder die gesamte Szenerie unheilvoll neu einzufärben. Wenn sich Rachel das Videoband anschaut, färbt sich das gesamte Bild im Blutrot eines nahstehenden Baums – nicht aber aus reiner Effekthascherei, sondern um zu signalisieren, dass die regnerische Realität verlassen wird. Das Video selbst ist letztlich ein albtraumhaftes Chaos, das an Dalís Ein andalusicher Hund erinnert und geht über den strikteren Grauen des Japan-Originals hinaus. Des Weiteren befinden sich in The Ring mehrere unaufdringliche, die Atmosphäre verdichtende Hitchcock-Hommagen, welche sich sehr gut in Verbinskis eigene Visualität einfügen.

Sonstige Stärken und die Schwächen
Neben der Bildsprache gibt es noch zwei weitere Hauptpfeiler, auf denen sich The Ring stützt: Hans Zimmers tragisch-verstörter Moll-Soundtrack und die Darbietung von Naomi Watts, die als barsche, engagierte Journalistin mit zunehmender Laufzeit auftaucht und mit steigender Angst auch immer mehr Menschlichkeit zeigt, so dass aus einer anfänglichen Klischeerolle eine runde Persönlichkeit wird. Zwar effektiv, allerdings sehr einsteitig ist dagegen ihr distanzierter Filmsohn, etwas charismatischer aber genauso nur handlungstechnisch notwendige Staffage Martin Henderson als Rachels Vertrauter.

Dramaturgisch ist The Ring sehr gut aufgebaut, die Genrewechsel bewegen sich mit dem Spannungsbogen mit, so dass aus einem Slasher-imitierenden Opening stückweise eine übernatürliche Familientrgödie entwickelt, der zum Schluss allerdings ein konsequent getragenes Finale entwächst. Gelungen ist auch, wie Symboliken phasenweise an Bedeutung gewinnen, ärgerlich dagegen, wie unentschlossen Verbinski und Drehbuchautor Ehren Krueger sind, ob übernatürliches in sich ruhen gelassen oder doch mit Erläuterungen unterfüttert wird. Aufgrund dessen ist die dieser Version exklusive Fährensequenz mit einem verängstigten Pferd alleinstehend betrachtet aufreibend, rückblickend betrachtet allerdings auch inhaltlich überflüssig und allein um der Atmosphäre willen eingefügt.

The Ring ist natürlich bei weitem nicht der derbste oder innovativste Horrorfilm seiner Dekade, aber er gehört für mich zu den handwerklich gelungensten und aufgrund der darin involvierten Talente sowie seiner Ausstrahlung eines flüchtigen Zeitgeistes genieße ich ihn, nun da ich die Scary Movie 3-Parodie endgültig verdaut habe, noch ein gutes Stück mehr, als er rein objektiv betrachtet verdient hat.

Sonntag, 22. April 2012

John Hench

Another Nine widmet sich, in Anlehnung an Walt Disneys Nine Old Men, den über viele Jahrzehnte prägenden Trickfilmern des Studios, neun großartigen Künstlern, deren Einfluss bisher nur unzureichend erkannt und gewürdigt wurde. Vorgestellt werden Menschen, die ihre kreative Arbeit in völlig verschiedenen Bereichen verrichtet haben – Im Schatten der Maus.

Der neunte und letzte Teil dieser Serie behandelt einen Menschen, der an der Verwirklichung des Traums von Walt Disney so lange arbeitete, wie Walt selbst: John Hench



Der 95-jährige John Hench mit seinem offizielle Portrait zu Micky Maus' 75. Geburtstag
(Quelle: sun-sentinel.com)

John Hench war das, was Walt Disney nach außen hin darstellte und Walt gefiel das ungemein. Er war kreativ, zielstrebig, dabei bodenständig, treu und detailversessen. Nicht, dass nicht die ein- oder andere dieser Eigenschaften auch auf den Maestro zugetroffen hätte, aber besonders was das künstlerische Gespür und die arbeitstechnische Geradlinigkeit anging, hatte Hench dem Studiogründer einiges voraus. John Henchs Leben war ganz und gar dem gewidmet, was er 1939 begonnen hatte. Was da wäre: das Eheleben mit seiner Frau Lowry – und die ewige Verbundenheit mit Walt Disney und seinen Schöpfungen.



John Hench und Walt Disney (Quelle: Walt Disney)

John Hench wurde am 29. Juni 1908 in Iowa geboren, wanderte aber schon als Kind mit seiner Familie nach Kalifornien aus. Er gehört zu den wenigen jungen Talenten, die schon vor ihrem Karrierebeginn bei Disney eine langjährige künstlerische Ausbildung genossen hatten. Zunächst ging er nach New York City, um an der dortigen Art Students League zu studieren, die zur selben Zeit von Jackson Pollock besucht wurde. Mit einem Stipendium für das Otis Art Institute kehrte er zurück nach Los Angeles. Desweiteren war er an der California School of Fine Arts in San Francisco und dem Chouinard Art Institute (heute Disneys Kaderschmiede CalArts) immatrikuliert.

Seine ersten Schritte in der Welt des Films führten ihn zu den Vitacolor Studios und Republic Pictures. Besonders Vitacolor war prägend für seine folgende Arbeit, hier lernte er die Handhabung und Ausdruckskraft von Farbe kennen. Auch an Spezialeffekten arbeitete er bereits zu dieser Zeit. Danach, gegen Ende der 1930er Jahre, entwarf er Schaufensterdekorationen und Werbeanzeigen für Broadway Stores, eine Einzelhandelskette, die in Kalifornien große Bekanntheit erlangte und gegen Ende des 20. Jahrhunderts ihren Niedergang erlebte.



John Hench in seinen späten Jahren (Quelle: Walt Disney)

Es war im Frühling 1939, als der frisch vermählte John Hench zum ersten Mal die Walt Disney Studios und damit eine kreative Werkstatt in der Blüte ihres Schaffens betrat. Henchs umfangreiche Ausbildung bescherte ihm eine rasante Karussellfahrt innerhalb des Unternehmens – er arbeitete zunächst im Story Department, dann als Layout- und Hintergrundzeichner, er war zuständig für Farbgestaltung und die künstlerische Gesamtleitung und arbeitete an Spezialeffekten, sowohl für Zeichentrick- als auch Realfilmproduktionen. Für zunächst 30 US-Dollar in der Woche arbeitete er an der Nussknacker-Suite aus Fantasia, insbesondere am Arabischen Tanz. Er war es, der die Gestaltung der Unterwasserdarstellung erdachte – ein zweifelsohne guter Einstand als neuer Mitarbeiter.

Auch während des 2. Weltkriegs arbeitete Hench weiter für Disney, der Streik im Jahr 1941 beeinflusste ihn kaum. Er arbeitete bis 1953 an Dumbo, Drei Caballeros, Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte, Cinderella, Alice im Wunderland, Peter Pan und zahlreichen Kurzfilmen.



John Hench und Walt Disney (Quelle: Walt Disney)

Die bei weitem spannendste künstlerische Beschäftigung John Henchs in den 1940er Jahren war aber die Zusammenarbeit mit dem Sinnbild des Surrealismus, Salvador Dalí. Im Jahr 1945 muss es überhaupt keinen Zweifel daran gehaben, wer mit Dalí zusammenarbeiten würde. Zunächst sprach Dalí kaum Englisch, weshalb man auf die französischen Sprachkenntnisse Henchs angewiesen war. Hinzu kam, dass John Hench zu den wenigen, gut ausgebildeten Künstlern gehörte, die im Studio arbeiteten – und quasi der einzige dieser wenigen war, der nicht im Character Department arbeitete oder als Chefzeichner als unentbehrlich galt.

Während der achtmonatigen Produktionsphase, die besser als „kreative Zusammenkunft“ bezeichnet werden sollte, war es John Henchs Aufgabe, das Wirrwarr an Gedanken und Ideen, das Dalí hervorbrachte, in filmisch verwertbare Bahnen zu lenken, was ihm bis zu einem gewissen Grad gelang, auch wenn Salvador Dalí angekündigt hatte, der Film sei nur perfekt, wenn ihn keiner verstehe. Als nach der Veröffentlichung von Fantasia 2000 die Produktion von Destino, so der Titel des Projekts, wieder aufgenommen wurde, musste rund ein Drittel des noch vorhandenen Erzählverlaufs gestrichen werde, weil schlichtweg niemand aus dessen Inhalt schlau wurde. Grundlage für die Rekonstruktion war das achtminütige Storyboard des Films gewesen, das Hench angefertigt hatte und das, obgleich Hench selbst am „Entschlüsselungsversuch“ mitwirkte, die Zusammenhänge nicht vollständig klären konnte. Strittig ist die Frage, wieviel Dalí tatsächlich im Film steckt. Die fünfzehnsekündige, von 1946 erhaltene Filmsequenz, die in der Neuproduktion Verwendung fand, stammte von John Hench. Von Dalí selbst erhalten waren rund hundert Zeichnungen und ein gutes Dutzend Gemälde, wobei John Hench nachgesagt wurde, er habe Dalís Stil so gut imitieren können, das ein Unterschied nicht festzustellen gewesen sei.

Der Film feierte schließlich am 2. Juni 2003 seine Premiere und wurde wenige Wochen vor Henchs Tod für den Oscar nominiert. Ganz gleich, ob man Dalí oder Hench mehr oder weniger Anteil an der Gestaltung zugestehen möchte, das Ergebnis des Projekts ist in jedem Falle erstaunlich.



Skizze des Space Mountain-Fahrgeschäfts (Quelle: Walt Disney)

Im Jahr 1954 wurde John Hench von Walt Disney persönlich ausgewählt, um an der Gestaltung von Disneyland mitzuwirken. Im selben Jahr kam 20.000 Meilen unter dem Meer in die Kinos. Für diesen Film hatte er an den Spezialeffekten gearbeitet und sollte im darauffolgenden Jahr mit dem Oscar belohnt werden. So waren in der Person von John Hench nicht nur ein vielseitiger Künstler und Designer, sondern auch ein technikverliebter Bastler vereint. Das Bild des Tomorrowland wurde so wesentlich von John Hench geprägt. Nicht nur die Attraktionen, sondern auch die Gestaltung von Arbeitskleidung und das allgemeine Klima im Park wurde von ihm mitverwirklicht. Dabei zeigte er sich als eifriger Schüler Walt Disneys, seine Freundschaft zum Studiogründer verfestigte sich mit der Eröffnung Disneylands noch. Nicht nur folgte er Walts Motto, man müsse als Verantwortlicher in das Publikum hineintauchen, sich mit den Gästen auseinandersetzen und ihre Wünsche und ihre Kritik ernst nehmen – tatsächlich wurde er selbst oft um Fotos und Autogramme gebeten, weil die Besucher ihn für Walt Disney selbst hielten.

In der Folge war John Hench für die Gestaltung aller Parks der kommenden 50 Jahre mitverantwortlich, insbesondere nach Walt Disneys Tod im Jahr 1966. Er war hauptverantwortlich für die Gestaltung von Walt Disney World, den Bau von Epcot 1982 und den ersten Vergnügungspark in Übersee, Tokyo Disneyland. Insgesamt gestaltete er mehr als hundert Fahrgeschäfte.




Fackel der Olympischen Winterspiele 1960

Aber auch außerhalb von Disneyland stieg John Hench zum wichtigsten Gestalter Walt Disneys auf. Für die Olympischen Winterspiele 1960 in Squaw Valley war Disney federführend verantwortlich, Hench arbeitete an der Gestaltung zahlreicher zeremonieller Aspekte. Am bedeutendsten ist mit Sicherheit sein Design für die Fackel, die nach Squaw Valley getragen wurde. Er orientierte sich dabei an den Modellen der Vorjahre.

Wesentlichen Einfluss nahm er auch auf die Gestaltung der Weltausstellung in New York City im Jahr 1964, für die Disney mehrere Attraktionen gestaltete: Great Moments with Mr.Lincoln, Carousel of Progress, Magic Skyway und it’s a small world. Besonders it’s a small world, für das auch Mary Blair stilprägend war, war ein großer Erfolg, der sich später in den Themenparks fortsetzte.

Eine besondere Aufgabe erwartete ihn zu den runden Geburtstagen des runden Maskottchens des Studios: Micky Maus. Er gestaltete das offizielle Portrait zu Mickys 25., 50., 60., 70. und 75. Geburtstag. Zu Walt Disneys 100. Geburtstag im Jahr 2001 hielt er eine Rede in Disneyland, in der er an den Studiogründer erinnerte.

Im Jahr 1990 wurde John Hench als eine der ersten Personen als Disney Legend ausgezeichnet. Neben einigen anderen Auszeichnungen für sein Lebenswerk, wurde ihm kurz vor seinem Tod der Winsor McCay Award der Annie Awards ausgezeichnet.



Grab John Henchs (Quelle: findagrave.com)

Am 10. Februar 2004 endete John Henchs Mitwirken an der Verwirklichung von Walt Disneys Traum. Bis zwei Wochen vor seinem Tod widmete Hench sich noch seiner Arbeit – wie in den 65 Jahren zuvor. Seine geliebte Frau Lowry, die zweite, wichtige Konstante in seinem Leben, folgte ihm nur dreizehn Tage später.