- Walt Disney
Ganz im Sinne dieser geradlinigen Beurteilung seines Schöpfers möchte ich in dieser Artikelreihe
Fantasia – Die Elemente eines Meisterwerks
Grazile Nilpferde, romantische Alligatoren und Strauße, die sich in perfekten Ballett-Schritten bewegen: Der Tanz der Stunden
Der Danza delle Ore ist eine Balletteinlage aus dem dritten Akt der Oper La Gioconda von Amilcare Ponchielli. Wie der Titel ankündigt, werden in dem Ballett die verschiedenen Stunden des Tages personifiziert dargestellt: Morgen, Mittag, Abend und Nacht treten jeweils in ihrem eigenen Tanz auf, bis die Stunden der Nacht im Finale wieder von den Tagesstunden vertrieben werden.
Die Oper, die 1876 zum ersten Mal aufgeführt wurde, war sofort ein großer Erfolg. Das Ballett, das von dem klassischen Kampf zwischen Licht und Dunkel erzählt, wurde schnell zu einem der bekanntesten und meist aufgeführten Ballettwerke überhaupt, und als Folge auch zu einem der am häufigsten Parodierten.
Schon 1929 wurde das Werk erstmals von Disney verwendet: In der Silly Symphony Springtime dient es gemeinsam mit Edvard Griegs Morgenstimmung zur Untermalung einer Reihe von Tänzen der Bewohner eines Flussufers. Insbesondere werden zum Tanz der Stunden ein paar Fröschen und ein Storch präsentiert, wobei letzterer am Ende die Frösche erfolgreich jagt und auffrisst.
Bemerkenswert im Vergleich zu Fantasia ist hier, dass nicht nur die gesamte Grundstruktur bereits gegeben ist - während der Stücke Morgen, Mittag und Abend wird eine Gruppe Beutetiere gezeigt, während Nacht kommt der Jäger und macht während des Finales Jagd auf den Rest - sondern wie selbst die Darstellung des Storches schon auf Fantasia hinweist; seine schleichenden Bewegungen und sein langes, bewegliches „Maul“ erinnern eher an ein Reptil als an einen Vogel.
In Anbetracht dieser Vorgeschichte ist es nicht verwunderlich, dass Walt Disney von Anfang an genaue Vorstellungen zur Verarbeitung des Tanzes der Stunden in Fantasia hatte.
In einem ersten mitgeschriebenen Meeting mit seinen Leuten legte er bereits im Detail die gesamte Struktur des Segmentes fest; von der grundlegenden Wahl der „Tänzer“ als Sträuße, Nilpferde, Elefanten und Alligatoren bis zum dezenten Stil der Komik. Er betonte, dass das Werk als einigermaßen ernsthaftes, ungekürztes Ballett inszeniert werden sollte, in dem die Darsteller sich selbst und ihre Darbietung ernst nehmen und erst im Laufe des Stückes durch kleinere Faux-pas mehr und mehr aus ihren Rollen fallen, bis die ganze Vorstellung schließlich vollkommen ins Absurde abgleitet.
Als besondere Herausforderung erkannte Disney dabei die Notwendigkeit, eine unrealistische, aber scheinbar natürliche Anatomie für die Karikaturen zu entwickeln, so dass man den schweren Dickhäutern die Ballettvorführung abnehmen konnte.
Die Darsteller im Tanz der Stunden sind (außer Micky) die einzigen anthropomorphen Tiere in Fantasia. Als Inspiration wurden die Zeichnungen der Karikaturisten T. S. Sullivant und Heinrich Kley genutzt, die jeweils Pate standen für Sträuße und Nilpferde, beziehungsweise Elephanten und Alligatoren. Das Ergebnis ist ein Stil, der durch Übersteigerung der artentypischen Merkmale wie zum Beispiel der großen Straußenfüße einen Bogen zu karikierten menschlichen Ballettdarstellungen schlägt.
Ein gutes Beispiel ist hierfür die erste Pirouette der Nilpferd-Prima Ballerina Hyacinth Hippo; auch ein Detail, das von Disney selbst vorgeschlagen wurde. In einer übersteigerten Anwendung der squash&stretch-Technik sehen wir, wie sich der ganze schwere Nilpferd-Leib mit der Pirouette um sie herum bewegt, um dann wie ein Sack Fett langsam an seinen Platz zurückzuschwabbeln.
Der Tanz der Stunden ist wohl das einzige Segment von Fantasia, bei dem die wieder restaurierte Einleitung von Taylor wirklich zur Wirkung des Stückes beiträgt. In seiner trockenen Art redet Taylor ganz ernsthaft von den Balletttänzern und beschreibt, wie ihre Kostüme die jeweilige Tageszeit widerspiegeln - ohne anzudeuten, dass die Tänzer keineswegs menschlich sind und ihre „Kostüme“ meist nicht über Schühchen und Haarschleifen hinausgehen.
Die Folge ist, dass der unbedarfte Zuschauer in keiner Weise auf die Darstellung des Ballettes vorbereitet ist und selbst beim ersten Blick auf die Straußen-Ballerina noch nichts Böses ahnt; so wird der Parodie-Charakter des Stückes perfektioniert.
Das Segment beginnt mit dem Betreten der Halle von Herzog Alvise. Dabei wird von Anfang an klar, dass es sich hier um ein Theater handelt, es hebt sich erst ein realer, dann ein gezeichneter Vorhang und selbst der Hintergrund mit den Wolken wird als eindeutig erkennbare Kulisse entlarvt.
Nach dem Vorbild der Balletttänzerin Irina Baronova, die im Studio einige grundlegende Ballett-Positionen vorführte, beginnt der Tanz der Straußen-Ballerina Madame Upanova. Obgleich eindeutig weiblich hat sie übrigens wie auch ihre Gefährtinnen das Federkleid eines männlichen Straußes; wohl einzig aus dem Grund, dass sie so um einiges fotogener wirkt.
Gerade in den ersten Teilen beschränkt sich auch die Kameraführung auf „ballettnahe“ Winkel; es werden keine Totalen von oben und nur wenige Nahaufnahmen gezeigt. Wie Disney schon zu Beginn festlegte, entsteht die Komik des Tanzes durch eine Mischung aus klassischem Ballett, bei dem die Tänzerinnen ihre Sache trotz kleinerer Fehler sehr ernst nehmen, und dem Verhalten von natürlichen Tieren, das immer wieder durchbricht. So war es seine Idee, Madame Upanova ein Füllhorn voll Früchte verteilen zu lassen, das an die Blumengaben klassischer Ballette erinnert, nur um dann in einem höchst tierischen Streit um die begehrten Weintrauben kämpfen zu müssen.
Der Kampf um die Früchte endet mit einem Wechsel von Szenerie und Tageszeit und der eigentliche Star des Ballettes taucht auf: Hyacinth Hippo. Ihr Auftritt ist eine Parodie auf Vera Zorinas Erscheinen in ihrem Wassernymphenballett aus dem Film The Goldwyn Follies von 1938. Da diese Anspielung heute kaum noch erkannt werden dürfte, ist dies vielleicht die einzige Szene von Fantasia, die wirklich gealtert ist. Allerdings ist der Auftritt des Nilpferdes spektakulär genug, um auch ohne dieses Vorwissen wunderbar zu funktionieren und stellt somit ein perfektes Beispiel für eine gelungene Parodie dar.
Wenn Hyacinth mit ihrer Morgentoilette beginnt, tut sie dies in der Tradition von zahllosen Bildern der Toilette der Venus. Auch hierbei wird das Menschliche der Karikatur betont und die Szene wird zur gutmütigen Darstellung einer etwas vollschlanken Diva, die sich ihres Gewichtes in keiner Weise bewusst ist.
Als Modell für die Nilpferde diente Hattie Noel, eine füllige schwarze Schauspielerin ohne Ballett-Hintergrund, die einige klassische Tanzschritte gezeigt bekam, die sie dann für die Zeichner nachahmte.
Der abrupte Wechsel von Mittag zu Abend ist das Signal für den Auftritt der Elefanten. Auch hier gibt es eine spezielle Elefantendame namens Elephanchine, auch wenn sie mangels äußerer Attribute nicht von den anderen zu unterscheiden ist - eventuell ist es die Tänzerin, die es schafft, eine Blase samt Goldfisch zu erzeugen.
Die schwerfällige Bewegung der Elefanten hatte ein höchst unklassisches Vorbild. Disney meinte, die Zeichner sollten sich am Aussehen von Baggy Pants orientieren; eines der Markenzeichen von T. Hee, dem Regisseur des Segments.
Am Ende des Abend-Tanzes erinnert ein sich blähender Vorhang wieder an die Theater-Realität des ganzen Stückes, ehe im nächsten Moment die Elefanten im Wind davonfliegen und so jegliche Realitätsnähe ad absurdum führen. Dabei stellt sich unwillkürlich die Frage, inwieweit nicht Dumbos rosa Elefanten oder die weggewehten Kindermädchen aus Mary Poppins von dieser Ballett-Szene inspiriert wurden.
Pünktlich bei Einbruch der Nacht wechselt die Szenerie ins Bedrohliche für den Auftritt der letzten Gruppe; der Alligatoren.
Obwohl die Bezeichnungen „Alligator“ und „Krokodil“ bei der Entstehung des Films quasi synonym benutzt wurden, handelt es sich bei der Gattung übrigens eindeutig um Alligatoren. Einen dezenten Hinweis bietet der Name der männlichen Hauptfigur: Ben Ali Gator.In der schamhaften Reaktion von Hyacinth Hippo zeigt sich wieder eine eindeutig menschliche Karikatur und gemäß der Tradition klassischer Ballette muss sie ihrem Verfolger erst kokett ausweichen, ehe sich die beiden zum großen Pas-de-deux treffen.Die seltsame Romanze zwischen Nilpferd und Alligator folgt exakten klassischen Ballettschritten und die Referenzmodelle für die beiden waren das gleiche Paar, das schon für Schneewittchen und den Prinzen als Vorlage diente. Die Komik folgt einzig aus der immer absurderen Übersteigerung des Tanzes, bei der Hyacinths perfekte Arabesque von Ben als Karussell missbraucht wird, oder sie ihn mit ihrem grandiosen Sprung in Grund und Boden wälzt.Der Tanz geht beinahe nahtlos in das Finale über, in dem die Nachtstunden wieder von den Stunden des Tages überwältigt werden. Während das Tempo der Musik zunimmt, werden auch die Verfolgungsjagden auf der Bühne immer absurder und enden schließlich in einer glücklichen Demolierung des gesamten Theaters.
Eines der wichtigsten Mittel, um den theaterhaften Eindruck des Balletts zu erzeugen, ist die perfekte Strukturierung der einzelnen Teile: Ken O‘Connor, der für das Layout des Segments verantwortlich war, gab jedem Abschnitt seine eigene Gestaltung, die sich jeweils in der Wahl von Form und Farbe ausdrückt.
Der Morgen besteht hauptsächlich aus vertikalen und horizontalen Linien, die nicht nur die gesamte Kulisse, sondern auch die Bewegungen der Sträuße durchziehen. Dazu kommen die blassen Farben der frühen Morgendämmerung, hauptsächlich Schwarzweiß- und Grautöne. Zum Mittag wechselt die Szenerie nach draußen; nun herrschen die ovalen Umrisse der Gartenanlage vor und auch die Nilpferde selbst bestehen aus weichen Ovalformen. Die Elefanten des Abends beherrschen ihre Umgebung mit den Schlangenlinien ihrer Körper und Rüssel, und die Alligatoren bewegen sich in aggressiven Zickzacklinien, die sich in den schrägen Bodenlinien des Hintergrundes wiederfinden.
Disney lag viel daran, bei der Erzeugung von Komik generell mehr zu experimentieren und er versuchte, dabei mit mehr Finesse ans Werk zu gehen. Oft beklagte er sich, wie schwer es sei, seine Mitarbeiter von einer anderen Art Comedy als dem simplen Slapstick zu überzeugen.
Bei dem Versuch, den richtigen Tonfall für die Komik des Segments zu finden, war für ihn wichtig, dass die tanzenden Tiere nicht zu einer reinen Klamauk-Nummer verkommen. Es war seine Idee, dass die Missgeschicke der Tiere als echte „Unfälle“ präsentiert werden, statt aus reinem Herumgealbere zu resultieren.
Das Resultat ist ein Stück, das klassische und komische Elemente perfekt vereint.
Im Grunde ist der Tanz der Stunden eine liebevolle Parodie auf das Konzept von Fantasia und somit sich selbst. Dass das Segment trotzdem ernstgenommen werden kann, liegt nicht zuletzt an der extremen Detailgenauigkeit, mit der die Zeichner die Seele des klassischen Balletts einzufangen versuchten.
Man sieht den Tieren vielleicht nicht direkt an, dass sie von den Bildern von Edgar Degas und den Vorführungen der Ballets Russes inspiriert wurden, doch zu spüren ist es zweifellos.Das Ballett an sich und speziell der Tanz der Stunden hatte zur Entstehungszeit des Filmes noch einen stärkeren Platz im allgemeinen Bewusstsein inne als heutzutage, und ein Großteil der Besucher konnte in den Tänzen die überzogene Darstellung echter Ballett-Technik wiederfinden. So ist vielleicht eine der unvorhergesehenen Errungenschaften von Fantasia auch die, ein wichtiges Stück Ballett-Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren.
Der Danza delle Ore ist eine Balletteinlage aus dem dritten Akt der Oper La Gioconda von Amilcare Ponchielli. Wie der Titel ankündigt, werden in dem Ballett die verschiedenen Stunden des Tages personifiziert dargestellt: Morgen, Mittag, Abend und Nacht treten jeweils in ihrem eigenen Tanz auf, bis die Stunden der Nacht im Finale wieder von den Tagesstunden vertrieben werden.
Die Oper, die 1876 zum ersten Mal aufgeführt wurde, war sofort ein großer Erfolg. Das Ballett, das von dem klassischen Kampf zwischen Licht und Dunkel erzählt, wurde schnell zu einem der bekanntesten und meist aufgeführten Ballettwerke überhaupt, und als Folge auch zu einem der am häufigsten Parodierten.
Schon 1929 wurde das Werk erstmals von Disney verwendet: In der Silly Symphony Springtime dient es gemeinsam mit Edvard Griegs Morgenstimmung zur Untermalung einer Reihe von Tänzen der Bewohner eines Flussufers. Insbesondere werden zum Tanz der Stunden ein paar Fröschen und ein Storch präsentiert, wobei letzterer am Ende die Frösche erfolgreich jagt und auffrisst.
Bemerkenswert im Vergleich zu Fantasia ist hier, dass nicht nur die gesamte Grundstruktur bereits gegeben ist - während der Stücke Morgen, Mittag und Abend wird eine Gruppe Beutetiere gezeigt, während Nacht kommt der Jäger und macht während des Finales Jagd auf den Rest - sondern wie selbst die Darstellung des Storches schon auf Fantasia hinweist; seine schleichenden Bewegungen und sein langes, bewegliches „Maul“ erinnern eher an ein Reptil als an einen Vogel.
In Anbetracht dieser Vorgeschichte ist es nicht verwunderlich, dass Walt Disney von Anfang an genaue Vorstellungen zur Verarbeitung des Tanzes der Stunden in Fantasia hatte.
In einem ersten mitgeschriebenen Meeting mit seinen Leuten legte er bereits im Detail die gesamte Struktur des Segmentes fest; von der grundlegenden Wahl der „Tänzer“ als Sträuße, Nilpferde, Elefanten und Alligatoren bis zum dezenten Stil der Komik. Er betonte, dass das Werk als einigermaßen ernsthaftes, ungekürztes Ballett inszeniert werden sollte, in dem die Darsteller sich selbst und ihre Darbietung ernst nehmen und erst im Laufe des Stückes durch kleinere Faux-pas mehr und mehr aus ihren Rollen fallen, bis die ganze Vorstellung schließlich vollkommen ins Absurde abgleitet.
Als besondere Herausforderung erkannte Disney dabei die Notwendigkeit, eine unrealistische, aber scheinbar natürliche Anatomie für die Karikaturen zu entwickeln, so dass man den schweren Dickhäutern die Ballettvorführung abnehmen konnte.
Die Darsteller im Tanz der Stunden sind (außer Micky) die einzigen anthropomorphen Tiere in Fantasia. Als Inspiration wurden die Zeichnungen der Karikaturisten T. S. Sullivant und Heinrich Kley genutzt, die jeweils Pate standen für Sträuße und Nilpferde, beziehungsweise Elephanten und Alligatoren. Das Ergebnis ist ein Stil, der durch Übersteigerung der artentypischen Merkmale wie zum Beispiel der großen Straußenfüße einen Bogen zu karikierten menschlichen Ballettdarstellungen schlägt.
Ein gutes Beispiel ist hierfür die erste Pirouette der Nilpferd-Prima Ballerina Hyacinth Hippo; auch ein Detail, das von Disney selbst vorgeschlagen wurde. In einer übersteigerten Anwendung der squash&stretch-Technik sehen wir, wie sich der ganze schwere Nilpferd-Leib mit der Pirouette um sie herum bewegt, um dann wie ein Sack Fett langsam an seinen Platz zurückzuschwabbeln.
Der Tanz der Stunden ist wohl das einzige Segment von Fantasia, bei dem die wieder restaurierte Einleitung von Taylor wirklich zur Wirkung des Stückes beiträgt. In seiner trockenen Art redet Taylor ganz ernsthaft von den Balletttänzern und beschreibt, wie ihre Kostüme die jeweilige Tageszeit widerspiegeln - ohne anzudeuten, dass die Tänzer keineswegs menschlich sind und ihre „Kostüme“ meist nicht über Schühchen und Haarschleifen hinausgehen.
Die Folge ist, dass der unbedarfte Zuschauer in keiner Weise auf die Darstellung des Ballettes vorbereitet ist und selbst beim ersten Blick auf die Straußen-Ballerina noch nichts Böses ahnt; so wird der Parodie-Charakter des Stückes perfektioniert.
Das Segment beginnt mit dem Betreten der Halle von Herzog Alvise. Dabei wird von Anfang an klar, dass es sich hier um ein Theater handelt, es hebt sich erst ein realer, dann ein gezeichneter Vorhang und selbst der Hintergrund mit den Wolken wird als eindeutig erkennbare Kulisse entlarvt.
Nach dem Vorbild der Balletttänzerin Irina Baronova, die im Studio einige grundlegende Ballett-Positionen vorführte, beginnt der Tanz der Straußen-Ballerina Madame Upanova. Obgleich eindeutig weiblich hat sie übrigens wie auch ihre Gefährtinnen das Federkleid eines männlichen Straußes; wohl einzig aus dem Grund, dass sie so um einiges fotogener wirkt.
Gerade in den ersten Teilen beschränkt sich auch die Kameraführung auf „ballettnahe“ Winkel; es werden keine Totalen von oben und nur wenige Nahaufnahmen gezeigt. Wie Disney schon zu Beginn festlegte, entsteht die Komik des Tanzes durch eine Mischung aus klassischem Ballett, bei dem die Tänzerinnen ihre Sache trotz kleinerer Fehler sehr ernst nehmen, und dem Verhalten von natürlichen Tieren, das immer wieder durchbricht. So war es seine Idee, Madame Upanova ein Füllhorn voll Früchte verteilen zu lassen, das an die Blumengaben klassischer Ballette erinnert, nur um dann in einem höchst tierischen Streit um die begehrten Weintrauben kämpfen zu müssen.
Der Kampf um die Früchte endet mit einem Wechsel von Szenerie und Tageszeit und der eigentliche Star des Ballettes taucht auf: Hyacinth Hippo. Ihr Auftritt ist eine Parodie auf Vera Zorinas Erscheinen in ihrem Wassernymphenballett aus dem Film The Goldwyn Follies von 1938. Da diese Anspielung heute kaum noch erkannt werden dürfte, ist dies vielleicht die einzige Szene von Fantasia, die wirklich gealtert ist. Allerdings ist der Auftritt des Nilpferdes spektakulär genug, um auch ohne dieses Vorwissen wunderbar zu funktionieren und stellt somit ein perfektes Beispiel für eine gelungene Parodie dar.
Wenn Hyacinth mit ihrer Morgentoilette beginnt, tut sie dies in der Tradition von zahllosen Bildern der Toilette der Venus. Auch hierbei wird das Menschliche der Karikatur betont und die Szene wird zur gutmütigen Darstellung einer etwas vollschlanken Diva, die sich ihres Gewichtes in keiner Weise bewusst ist.
Als Modell für die Nilpferde diente Hattie Noel, eine füllige schwarze Schauspielerin ohne Ballett-Hintergrund, die einige klassische Tanzschritte gezeigt bekam, die sie dann für die Zeichner nachahmte.
Der abrupte Wechsel von Mittag zu Abend ist das Signal für den Auftritt der Elefanten. Auch hier gibt es eine spezielle Elefantendame namens Elephanchine, auch wenn sie mangels äußerer Attribute nicht von den anderen zu unterscheiden ist - eventuell ist es die Tänzerin, die es schafft, eine Blase samt Goldfisch zu erzeugen.
Die schwerfällige Bewegung der Elefanten hatte ein höchst unklassisches Vorbild. Disney meinte, die Zeichner sollten sich am Aussehen von Baggy Pants orientieren; eines der Markenzeichen von T. Hee, dem Regisseur des Segments.
Am Ende des Abend-Tanzes erinnert ein sich blähender Vorhang wieder an die Theater-Realität des ganzen Stückes, ehe im nächsten Moment die Elefanten im Wind davonfliegen und so jegliche Realitätsnähe ad absurdum führen. Dabei stellt sich unwillkürlich die Frage, inwieweit nicht Dumbos rosa Elefanten oder die weggewehten Kindermädchen aus Mary Poppins von dieser Ballett-Szene inspiriert wurden.
Pünktlich bei Einbruch der Nacht wechselt die Szenerie ins Bedrohliche für den Auftritt der letzten Gruppe; der Alligatoren.
Obwohl die Bezeichnungen „Alligator“ und „Krokodil“ bei der Entstehung des Films quasi synonym benutzt wurden, handelt es sich bei der Gattung übrigens eindeutig um Alligatoren. Einen dezenten Hinweis bietet der Name der männlichen Hauptfigur: Ben Ali Gator.In der schamhaften Reaktion von Hyacinth Hippo zeigt sich wieder eine eindeutig menschliche Karikatur und gemäß der Tradition klassischer Ballette muss sie ihrem Verfolger erst kokett ausweichen, ehe sich die beiden zum großen Pas-de-deux treffen.Die seltsame Romanze zwischen Nilpferd und Alligator folgt exakten klassischen Ballettschritten und die Referenzmodelle für die beiden waren das gleiche Paar, das schon für Schneewittchen und den Prinzen als Vorlage diente. Die Komik folgt einzig aus der immer absurderen Übersteigerung des Tanzes, bei der Hyacinths perfekte Arabesque von Ben als Karussell missbraucht wird, oder sie ihn mit ihrem grandiosen Sprung in Grund und Boden wälzt.Der Tanz geht beinahe nahtlos in das Finale über, in dem die Nachtstunden wieder von den Stunden des Tages überwältigt werden. Während das Tempo der Musik zunimmt, werden auch die Verfolgungsjagden auf der Bühne immer absurder und enden schließlich in einer glücklichen Demolierung des gesamten Theaters.
Eines der wichtigsten Mittel, um den theaterhaften Eindruck des Balletts zu erzeugen, ist die perfekte Strukturierung der einzelnen Teile: Ken O‘Connor, der für das Layout des Segments verantwortlich war, gab jedem Abschnitt seine eigene Gestaltung, die sich jeweils in der Wahl von Form und Farbe ausdrückt.
Der Morgen besteht hauptsächlich aus vertikalen und horizontalen Linien, die nicht nur die gesamte Kulisse, sondern auch die Bewegungen der Sträuße durchziehen. Dazu kommen die blassen Farben der frühen Morgendämmerung, hauptsächlich Schwarzweiß- und Grautöne. Zum Mittag wechselt die Szenerie nach draußen; nun herrschen die ovalen Umrisse der Gartenanlage vor und auch die Nilpferde selbst bestehen aus weichen Ovalformen. Die Elefanten des Abends beherrschen ihre Umgebung mit den Schlangenlinien ihrer Körper und Rüssel, und die Alligatoren bewegen sich in aggressiven Zickzacklinien, die sich in den schrägen Bodenlinien des Hintergrundes wiederfinden.
Disney lag viel daran, bei der Erzeugung von Komik generell mehr zu experimentieren und er versuchte, dabei mit mehr Finesse ans Werk zu gehen. Oft beklagte er sich, wie schwer es sei, seine Mitarbeiter von einer anderen Art Comedy als dem simplen Slapstick zu überzeugen.
Bei dem Versuch, den richtigen Tonfall für die Komik des Segments zu finden, war für ihn wichtig, dass die tanzenden Tiere nicht zu einer reinen Klamauk-Nummer verkommen. Es war seine Idee, dass die Missgeschicke der Tiere als echte „Unfälle“ präsentiert werden, statt aus reinem Herumgealbere zu resultieren.
Das Resultat ist ein Stück, das klassische und komische Elemente perfekt vereint.
Im Grunde ist der Tanz der Stunden eine liebevolle Parodie auf das Konzept von Fantasia und somit sich selbst. Dass das Segment trotzdem ernstgenommen werden kann, liegt nicht zuletzt an der extremen Detailgenauigkeit, mit der die Zeichner die Seele des klassischen Balletts einzufangen versuchten.
Man sieht den Tieren vielleicht nicht direkt an, dass sie von den Bildern von Edgar Degas und den Vorführungen der Ballets Russes inspiriert wurden, doch zu spüren ist es zweifellos.Das Ballett an sich und speziell der Tanz der Stunden hatte zur Entstehungszeit des Filmes noch einen stärkeren Platz im allgemeinen Bewusstsein inne als heutzutage, und ein Großteil der Besucher konnte in den Tänzen die überzogene Darstellung echter Ballett-Technik wiederfinden. So ist vielleicht eine der unvorhergesehenen Errungenschaften von Fantasia auch die, ein wichtiges Stück Ballett-Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren.
Danke für diesen sehr schönen und ebenso interessanten Artikel!
AntwortenLöschenDankeschön, ich hatte viel Freude beim Lesen!
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