- Walt Disney
Ganz im Sinne dieser geradlinigen Beurteilung seines Schöpfers möchte ich in dieser Artikelreihe
Fantasia – Die Elemente eines Meisterwerks
„Der Nussknacker“ („Щелкунчик“, bzw. „Schtschelkuntschik“) wurde 1892 von Pjotr Iljitsch Tschaikowski als Ballett in zwei Akten geschrieben; die Geschichte ist eine Verarbeitung von E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Nussknacker und Mäusekönig“.
Die originale Produktion kam beim St. Petersburger Publikum unerwartet schlecht an und wurde zu einem Misserfolg. Man kann annehmen, dass ein Hauptgrund dafür darin liegt, dass das Ballett alleine vom dramatischen Standpunkt nicht an Tschaikowskis andere Werke herankommt.
Die erste Hälfte, die die ganze Geschichte erzählt, ist abgesehen vom „Schneeflockenwalzer“ musikalisch wenig eingängig. Die „bekannten“ Melodien folgen alle im zweiten Akt, der allerdings aus einer reinen Tanzfolge ohne jede Handlung besteht. Somit bietet sich der Nussknacker schon von seiner Konzeption her eher für eine Suite als für ein Ballett an, und es ist nicht verwunderlich, dass Tschaikowskis Suiten-Bearbeitung von Anfang an weit erfolgreicher war, als das Ballett selbst.
Walt Disney wollte mit der Nussknacker-Suite eine Welt erschaffen, die aussieht wie etwas, das man mit halb geschlossenen Augen sehen könnte; wenn die Blätter und Blüten zu tanzen scheinen und Glühwürmchen wie Elfen aussehen. Es ging ihm um die Kraft der Vorstellung, die Darstellung dessen, was man in der Realität nicht sehen kann, aber wovon man im Halbschlaf träumen würde.
Es war Disneys Idee, die Ouvertüre und den Marsch zu streichen, die die Suite gewöhnlich einläuten und direkt mit dem „Tanz der Zuckerfee“ zu beginnen. Seiner Meinung nach waren die Tautropf-Elfen ein schönerer Anfang, um sofort für die richtige Stimmung zu sorgen. Dadurch bildet der Naturzyklus der Elfen einen Rahmen, der dafür sorgt, dass die ansonsten unabhängigen Tänze thematisch nicht auseinanderfallen.
Der große Einfluss, den diese Szene langfristig auf die Disneytradition hat, ist nicht zu verleugnen. So ist der funkelnde Tau, mit dem die Elfen die Blumen und Pflanzen bedecken, die erste Erscheinung des heute so ikonischen Disney- oder Feenglanzes.
Glöckchens glitzerndes Erscheinungsbild - bei Marketingzwecken oft genug mitsamt Zauberstab - erinnert nicht zufällig an ihre älteren Schwestern, insbesondere in den berüchtigten Tinkerbell-Filmen, in denen auch das Konzept der Nimmerland-Feen als Jahreszeitbringer aufgegriffen wird.
Und auch die Einführung der Feen in Don Bluths Däumeline ist eindeutig von Fantasias Elfen inspiriert.
Bei den nun folgenden Tänzen wurde die originale Reihenfolge der Suite leicht verändert. Als Erstes folgt der „Chinesische Tanz“, bei dem (statt der ursprünglichen Konzepte von orientalischen Eidechsen und Fröschen) ein Pilzballett mit Tänzern sich ständig ändernder Form und Größe zu sehen ist, das reizend von dem kleinsten Pilz unterwandert wird, auch bekannt als „Kleiner Hüpfer“.
Darauf folgt der „Tanz der Rohrflöten“, in dem wir zarte Blüten auf eine Flussoberfläche schweben und dort als stilisierte Ballerinen tanzen sehen. Vorbild für den Tanz der weiflen Blüte stand unter anderem Marjorie Belcher, die schon für Schneewittchens Tanzszenen Videomaterial lieferte.
Der „Arabische Tanz“ bleibt als von zarten Fischen vorgeführter Schleiertanz seiner eigentlichen Idee erstaunlich treu. Die von Cleo inspirierten Goldfische, die sich mit einer nur angedeuteten Sinnlichkeit bewegen, wurden ebenfalls nach menschlichem Vorbild animiert: die Disney-Zeichner durften die Bewegungen der arabischen Tänzerin Princess Omar studieren.
Disney wollte mit den verführerischen Fischlein bewusst das Bild eines Harems heraufbeschwören, in dem sich die verschleierten Damen kokett vor einem eindringenden Fremden verbergen.
Im „Russischen Tanz“ drehen sich Disteln und Orchideen in stilisierter russischer Bauerntracht wild im Kreis. Die Vorführung zeigt einen traditionellen Kosakentanz, allerdings wird dieser durch die extravagante Darstellung und eine furiose Anwendung der squash&stretch-Technik ins Traumartige übersteigert. Das Ergebnis ist eine phantastische Darbietung, wie sie nur dieses Medium bieten kann.
Und das Finale bildet - wie in der originalen Anordnung - der „Blumenwalzer“, in dem Sommerelfen, Herbstelfen, Frostelfen und Schneeflocken-Elfen den Jahreslauf vom Spätsommer bis zum Winter darstellen und somit den Bogen vom Anfang der Suite schlieflen.
Disney wollte, dass in der herbstlichen Darstellung des Blumenwalzers die natürliche Bewegung der Blätter und Samen als Tanz verstärkt würde. Anders als bei den anderen Tänzen war er hier bewusst gegen eine Vermenschlichung und bestand auf naturgetreuem Schweben und Wehen, einem „Ballett in der Luft“.
Als ich mir dieses Stück auf der Bluray anschaute, war ich zunächst irritiert: Die ersten Elfen, die sich am Anfang in die Luft heben und auf der VHS und DVD nur eine Nuance dunkler waren als die goldenen Herbstelfen, haben jetzt eine eindeutig grüne Farbe. Obwohl die Wirkung für mich gewöhnungsbedürftig ist, kann ich mir gut vorstellen, dass dies eher den ursprünglichen Farben entspricht. Ich hatte zugegebenermaflen nie verstanden, warum die Herbstelfen zwei (bis drei) verschiedene Farbtöne aufweisen. Jetzt wird der Übergang von Sommer zu Herbst, der während des anfänglichen Harfensolos vonstattengeht, um einiges klarer.
Die Nussknacker-Suite ist eine Darstellung purer Ästhetik und Schönheit und stellt mit Sicherheit eine der Sternstunden des Balletts dar. Das spiegelt sich auch in mancher Kritik nieder, wie zum Beispiel dem Artikel des Dance Magazine zur Uraufführung des Films: „The most extraordinary thing about Fantasia is, to a dancer or balletomane, not the miraculous musical recoring, the range of color, or the fountainous integrity of the Disney collaborators, but quite simply the perfection of its dancing.“
Die Perfektion des Tanzes - man kann wohl mit ruhigem Gewissen davon ausgehen, dass sich diese Einschätzung zu einem Großteil auf das Nussknacker-Segment bezog.
Die Animation der Nussknacker-Suite hat sich von der relativ festen Vorgabe befreit, bleibt ihr als Adaption aber trotzdem treu, und ich bin sicher, dass diese exquisite Darstellung auch Tschaikowski selbst gefallen hätte. Für mich stellt Disneys Version der Nussknacker-Suite das schönste Stück Animation überhaupt dar (und ich lechze nach einer dreidimensionalen Vorführung). Die Perfektion der Animation, die seinerzeit völlig ohne Computer bewerkstelligt wurde, ist bis heute unübertroffen.
Mehr von mir gibt es auf www.AnankeRo.com.
1 Kommentare:
Wieso so eine kleine Schriftart?
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