Die Geschichte eines inspirierenden, engagierten Lehrers, der das System hinterfragt und/oder aus demotivierten Schülern reife, selbst denkende Menschen macht... Sie formt ein ganzes Subgenre, und ich habe ein gewisses Faible für solche Dramen. Es ist überraschend, wie unterschiedlich dieses Subgenre angepackt werden kann. Mal poetisch (Der Club der toten Dichter), mal effekthascherisch mit Fokus auf Spannung und Unterhaltungsfaktor (Dangerous Minds). Die für einen Oscar in der Kategorie "Bester fremdsprachiger Film" nominierte französische Produktion Die Klasse geht mit einem bis dahin vollkommen neuen Ansatz an Schuldramen heran. Im Stil einer Dokumentation gehalten täuscht Die Klasse Authentizität nicht nur vor, durch seine unprätentiöse und unverfälschte Darstellung des französischen Schulalltags ist er auch authentisch, so authentisch, wie es selbst Filmdokumentationen oftmals nicht sein können.
Aufgrund seiner Produktionsgeschichte war es von Die Klasse auch kaum anders zu erwarten: Grundlage für diese Doku-Fiktion bildete das Sachbuch Entre les murs, in dem der Lehrer François Bégaudeau seine persönlichen Erfahrungen als Literatur- und Französischlehrer in einer Pariser Vorstadt verarbeitete. Darauf basierend entwickelte er zusammen mit Regisseur Laurent Cantet und Robin Campillo ein grobes Skript. Jedoch führte noch ein weiterer Schritt dazu, dass die Szenen so lebensnah und die Schauspielleistungen so echt wirken: Ähnlich wie der Tragikomödien-Filmer Mike Leigh arbeitete Cantet zusammen mit den (Laien-)Darstellern in Improvisations-Workshops die Figuren von Die Klasse aus. Bei den eigentlichen Dreharbeiten ließ man dann den Dingen ihren Lauf. Eine Kamera blieb auf François Bégaudeau gerichtet, der als François Marin eine fiktive Abwandlung seiner eigenen Lehrer-Persona gab, eine Kamera verfolgte die Aktionen der Schüler, eine dritte mobile Kamera lauerte dem Geschehen auf und sollte bei besonders spontanen Ereignissen wachsam die Reaktionen einfangen. So entstand eine realistische Unterrichtsatmosphäre, die ohne die fiktionale Verfälschung eines künstlischen Erzählstrangs sowie ohne die Fokus der Berichterstattung lenkende Perspektive eines Dokumentarfilmers den Alltag einer Problemklasse nachbildet.
Ein solches Produktionskonzept bringt jedoch auch, sofern im Schnitt nicht hart und konsequent durchgegriffen wird, auch Nachteile mit sich: Die Klasse beginnt recht langatmig mit einer unnötigen, und anders als der restliche Film gekünstelt wirkenden, Sequenz, in der sich die Lehrer untereinander vorstellen. Auch die erste Unterrichtsstunde baut noch Distanz zwischen dem Betrachter und dem Leinwandgeschehen auf, bevor man sich sukzessive in den Klassenalltag eingesogen und letztlich wie ein stiller Referendar am Rand der Ereignisse sitzend fühlt. In dieser ersten Unterrichtsszene wirkt Die Klasse noch wie ein Stück Gebildeten-Voyeurismus: Die Schüler sollten in einem Text alle ihnen unbekannten Begriffe anstreichen, damit Monsieur Marin sie an die Tafel schreibt und erklärt. Die Tafel füllt sich, füllt sich und füllt sich, mit so einfachen Vokabeln wie "lecker", "Österreicherin" oder "nunmehr", deren Erläuterungen die lärmenden Schüler kaum folgen kann. Es schleicht sich ein fader Beigeschmack in das Drama, fast befürchtet man, Laurent Cantet habe es auf falsche Betroffenheit abgesehen, in der Empörung und Belustigung mitschwingt. Wie dumm diese Problemkinder aus einem von Armut und Integrationsproblemen geplagten Pariser Schulbezirk doch sind...
Alsbald findet Die Klasse, beruhigenderweise, zu seiner wahren Form. Aus der eingangs anonymen, lärmenden und bockigen Schülermasse kristallisieren sich individuelle Typen heraus, das Stereotyp der komplett gleichdenkenden, asozialen Masse wird gebrochen. Es macht sich bemerkbar, dass einige der Schülerinnen und Schüler eher schüchtern sind, andere von Problemen demotiviert, andere den Stoff nicht verstehen und ihren Frust durch Ungehorsam auslassen, andere sind eigentlich aufgeweckt. Manche Schüler fühlen sich von Lehrer unverstanden. Eine Schülerin schreibt François Marin einen höflichen Brief, indem sie ankündigt, sich nach ganz hinten in die Klasse zu setzen und nicht mehr von ihm angesprochen werden will. Sie versteht die als Motivationsaktionen gedachten Handlungen Marins als gehässige Belästigung, vor allem ist sie aber auch von seinen Unterrichtsinhalten genervt. Weil sich viele seiner Kollegen nicht um die Jugendlichen scheren, nutzt Klassenlehrer Marin seinen Unterricht nämlich auch als Forum, die Probleme seiner Siebtklässler anzusprechen. Dies kann die Briefschreibern nicht nachvollziehen, für sie hat der Literatur- und Französischunterricht von großen Werken wichtiger Schriftsteller zu handeln, nicht davon, wie es dem ständig mit seiner Kette rumspielenden Angeber in der letzten Reihe so geht oder von der weiblichen Periode.
Damit deutet Die Klasse einen Finger auf ein großes pädagogisches Dilemma: Wenn der Mikrokosmos Klassenraum nicht wie frisch geschmiert läuft, sondern soziale Kluften, aufgestaute Emotionen und problematische Spannungen den Unterrichtsverlauf erschweren, steht der Lehrkörper vor der Wahl, diese Störungen aus dem Weg zu schaffen, wodurch aber die eigentlichen Unterrichtsinhalte auf der Strecke bleiben und Schüler, die eigentlich mehr drauf haben, nicht genug gefördert werden, oder diese Probleme zu ignorieren. Dann bleibt die Lernatmosphäre vergiftet, doch der Lehrplan wird erfüllt und die engagierten Schüler werden nicht durch Larifari-Lerninhalte demotiviert.
Ähnlich wie die Schüler, entspricht auch die Lehrerfigur nicht dem aus schwächeren Schuldramen bekannten Klischeebild des makellosen Bildungsritters. Er ist eine aus dem Leben gegriffene, in sich gebrochene Figur, die für jede richtige Handlung auch einen Fehler mit sich bringt. François' Bemühungen sind redlich und binden so den Zuschauer an sich, ebenso seine im Vergleich zum restlichen Kollegium progressivere und engagiertere Haltung. Dann kommen Zweifel an ihm auf, etwa wenn er wegen Kleinigkeiten plötzlich die Geduld verliert, manche größere Vergehen dagegen gutmütig abwiegelt. Seine Wortwahl und stets ironischer Tonfall sind für den Betracher ein Genuss, im Umgang mit seiner Klasse wird dies jedoch zu einem gefährlichen Drahtseilakt. Mal trifft sein Witz, manchmal kommt er zu bemüht-kumpelhaft rüber und in anderen Fällen bemerkt er nicht, wie sein liebevoll gedachter Sarkasmus über die Köpfe seiner Schüler hinwegfliegt und beleidigend wirkt.
Die einzelne Sequenzen in Die Klasse sind zu Beginn mosaikartig aneinandergereiht, recht natürlich entsteht allerdings ein thematischer roter Faden: Die Kommunikation. Sei es, dass sie dadurch thematisiert wird, dass die Schülern einen die Erwartungen des Lehrers unterbietenden Wortschatz haben, eine Viertelstunde über Sinn und Unsinn des Indikativ Imperfekt diskutiert wird oder sich anhand der holprig laufenden Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern abzeichnet, dass beide in unterschiedlichen Welten leben. Kommunikative Fehltritte sind es letztlich, die im abschließenden Drittel von Die Klasse doch noch eine (fast) durchgehende Handlung etablieren.
Die Klasse weiß durch seine realen Charaktere, die authentischen sowie interessanten Dialoge und seine unprätentiöse Machart zu begeistern... Sofern man einiges Interesse für seine Thematik mitbringt. Denn leider ist der Gewinner der Goldenen Palme auch ein tautologisches Unterfangen: Sofern man sich für Sprache, Bildung und sozialkulturelle Spannungen begeistern kann, kurz gesagt für den Mikrokosmos Schulklasse, wird man dieses Drama nach ersten Startschwierigkeiten aufsaugen und im Anschluss einen Drang verspüren, mit Gleichgesinnten Diskussionen über das Gesehene sowie eigene Beobachtungen aufzurollen. Um aber an den Problemen im Bildungssystem etwas zu ändern, müssen Augen geöffnet werden - und Die Klasse kann bestenfalls leicht getrübten Blicken eine Sehhilfe geben. Wem die gesamte Thematik egal ist, der wird bei Die Klasse sehr schnell auf Durchzug schalten, da er diesen Leuten keinerlei Möglichkeiten bietet, sich emotional zu engagieren. Man hätte die Die Klasse wirklich nicht "verdummen" müssen, aber ein "narrativer Haltegurt", der ein wenig mehr Spannung auch abseist seiner reinen Thematik reinbringt, käme sicherlich auch seiner Intention entgegen. Denn Die Klasse behauptet von sich nicht, Lösungen parat zu haben. Der Film lenkt den Blick (zurück) auf schulische Probleme und überlässt dem Betrachter die Wertung. Deswegen ist Die Klasse auch ein Film, der nach dem Abspann noch viel länger weitergeht - denn sobald diese Diskussionsgrundlage zu Ende ist, muss ja auch laut darüber nachgedacht werden. Die Klasse schafft es leider nicht, gänzlich neue Stimmen ins Gespräch zu führen, allerdings gelingt es ihm wenigstens, die alten Stimmen wieder mit Engagement zum Thema zu leiten.
Hinweis: Die Klasse läuft heute Abend um 22.50 Uhr im MDR
1 Kommentare:
»Deswegen ist Die Schule auch ein Film,…«
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