Trotzdem sind Musikeinlagen keine garantierte Erfolgsformel für Disney. Manche Musicals scheitern daran, sich große Publikumsresonanz zu erarbeiten. Wer kennt schon Der glücklichste Millionär? Die Produktion von 1967 geriet rasch in Vergessenheit und lebt nur noch als Hintergrundmusik in der Main Street U.S.A. der Disneyparks weiter. Der glücklichste Millionär beweist allerdings auch: Ab einer gewissen Produktionsgröße ist es eigentlich nahezu unmöglich, dass Disneyfilme komplett untergehen. Irgendwie finden sie immer einen Zufluchtsort, an dem sie weiterleben. So erging es auch einem weiteren erfolglosen Disney-Musical: Newsies.
Der auf wahren Begebenheiten basierende Realfilm kam 1992 auf den Schwingen der Disney-Trickrenaisssance in die US-Kinos, und das wohl nicht gerade von tiefstapelnden Erwartungen begleitet. Ursprünglich war es geplant, die Ereignisse des Zeitungsjungenstreiks anno 1899 als Drama zu verfilmen, aber da sich Disney mit Arielle, die Meerjungfrau wieder auf sein musikalisches Geschick zurückbesinnte, wurde Komponist Alan Menken herbeigeordert und Newsies zum Musical umfunktioniert. Für den Score engagierte Disney allerdings den unterschätzten Studioveteranen J.A.C. Redford, der bereits den Score zu Oliver & Co. schrieb und in den Folgejahren auch an Mighty Ducks 2 & 3, Mein großer Freund Joe oder WALL•E mitarbeiten sollte. Die Regie und Chroegraphie übernahm derweil Kenny Ortega, der zuvor die Tanzschritte des Welterfolgs Dirty Dancing erdachte und später mit Hokus Pokus einen Disney-Kulthit schaffen sollte. Und wieder einige Jahre darauf fand er auf dem Regiestuhl der High School Musical-Trilogie Platz.
Disney wünschte sich für Newsies zunächst den Oscar-prämierten Texter Howard Ashman, welcher allerdings schon zu Produktionsbeginn von seiner AIDS-Erkankung stark geschwächt war und die Federführung deswegen an Jack Feldman (Oliver & Co.) abgeben musste. Einige Monate vor Kinostart verstarb Ashman bekanntlich und hinterließ in der Musikwelt und den Disney-Studios eine große Lücke.
Newsies wurde ein bitterer Kinoflop für die Disney-Studios: In den USA nahm das Musical gerade einmal 2,8 Millionen Dollar ein, die internationale Auswertung fiel ebenfalls sehr klein aus - in manchen Ländern wurde Newsies zur bloßen Videopremiere degradiert. Wie jedoch erwähnt, leben gerade bei Disney öfters mal Totgesagte länger. Als Leihkassette und mittels zahlreicher Wiederholungen im Disney Channel wurde Newsies in den USA ein Achtungserfolg, der sich eine eingeschworene Kult-Fangemeinschaft aufbauen konnte. Diese konnte mittels Petitionen eine DVD-Veröffentlichung erbetteln und ist generell recht lautstark. Wie Hauptdarsteller Christian Bale anmerkte, der sich lange Zeit von Newsies distanzierte und erst jüngst wieder mit dem Film wärmer geworden ist: Sagst du etwas schlechtes über Newsies, sind sofort seine Verteidiger da und ermahnen dich.
Möglicherweise ist es auch die Chance, einen jungen Christian Bale singen und tanzen zu sehen, die den Kult um Newsies immer weiter anfacht. Mittlerweile ist Newsies nämlich vom Schandfleck zu einem respektierten Katalogtitel Disneys geworden - schon länger wurde laut über eine Broadway-Adaption nachgegrübelt und seit letztem Jahr arbeitet Alan Menken tatsächlich an Variationen seiner alten Songs sowie neuen Melodien für das Bühnenstück. Nicht schlecht für einen mehrfach Razzie-nominierten Kinoflop, der Menken die berühmt-berüchtigte Goldene Himbeere einbrachte...
Kommen wir endlich mal zur Story des Films: Joseph Pulitzer beschäftigt 1899 für seine Zeitung New York World zahllose heimatlose, arme und verwaiste Jungen als Zeitungsverkäufer. Unter den sich in feinster Charles-Dickens-Manier durchschlagenden Buben befindet sich auch der 17-jährige Jack "Cowboy" Kelly, der mit seinen hochtrabend klingenden Geschichten über seine Vergangenheit sowie seiner Gewitztheit eine Führungsperson für die Zeitungsjungen-Bande darstellt. Als der Satz, den Zeitungsjungs für die Ausgaben bezahlen müssen erhöht wird, nicht aber der Endpreis, beschließen Jack und sein enger Freund David, dass es an der Zeit ist, einen Streik anzuzetteln. Dabei erhalten sie Hilfe vom Reporter Bryan Denton und dem Veudeville-Star Medda "Swedish Meadowlark" Larkson. Für den von der Polizei verfolgten Jack entsteht so ein Dilemma, da er seinen neu gewonnenen Freunden zur Seite stehen, aber auch gerne sämtliche Brücken abfackeln und nach Santa Fe fliehen möchte...
Dass Newsies seinerzeit von vielen Kritikern verrissen wurde, erstaunt nicht wirklich. Die größte Sünde dieser Disney-Produktion ist ihre Unbeständigkeit im Tonfall. Die meisten Gesangseinlagen versprühen den klassischen Disney-Musical-Kitsch oder -Pathos, sie sind über-lebensgroß, bunt, spaßig. Der Kern der Handlung wird hingegen für die meiste Zeit viel seriöser genommen. Newsies versteht sich nicht als die verrückte, aber wahre Geschichte eines Zeitungsjungen-Streiks, sondern als ein echtes Drama. Selbstverständlich nicht als ein bitteres, schwerfüßiges Drama... Newsies möchte eines dieses inspirierenden Dramen für die ganze Familie sein, das für jeden leisen Schluchzer später eine Freudenträne einlösen möchte. Und dann kommen wieder diese Momente, in denen Newsies wieder wie eine Disney-Familienkomödie wirkt. Das sind zwar alles keine krassen Gegensätze, und in den Händen eines erfahrenen Regisseurs könnten diese Elemente garantiert auch fließend ineinander übergehen, Debütant Kenny Ortega lieferte aber einen Film ab, der den Eindruck erweckt, dass nach Drehschluss das Studio die abgelieferte Version nicht mochte und von einem zweiten Regisseur unter großem Zeitdruck einige Nachdrehs forderte. Missionsziel: Den Tonfall ändern. "Wir wollen alles genauso... nur anders!" Newsies ist für Disney-Musicals insofern ungefähr das, was Hancock für das Superheldengenre darstellt.
Damit erklärt sich jedoch auch ein sicherlich nicht unerheblicher Teil des Kultfaktors von Newsies. Während Hancock als großes, ambitioniertes Experiment scheiterte und somit zwar unterhält, aber auch deprimiert, nahm sich Newsies ja keine Revolution der Musicalwelt vor. Es waren wesentlich kleinere Brötchen, die gebacken werden sollten, und dass sie nun nicht wirklich rund geworden sind, stört mit etwas Abstand zum Werk überhaupt nicht. Für Kinder ist Newsies vielleicht passagenweise etwas langatmig, aber auch ein ganz süßer Spaß, für den erwachsenen Zuschauer gehen mittelmäßige bis gute Musicaleinlagen Hand in Hand mit dieser typischen Kult-Wirkung... Newsies hat aufgrund der Divergenz zwischen seinen Kern-Sequenzen einen leicht campigen Touch, ohne dabei derart schrill wie High School Musical zu werden. Newsies ist eher "Annie für Jungen... mit dem Versuch, etwas Kitsch durch Anspruch zu ersetzen, wobei allerdings Camp entstand".
Stellt euch vor, im Hintergrund hinge ein roter Vorhang... "Zeitungs... Jungen... Musical...!"
Darstellerisch ist Newsies recht durchwachsen: Die meisten der Kinder- und Jugenddarsteller sind hauptsächlich als Tänzer und Sänger ausgebildet, weshalb das Schauspiel zwar unaffektiert, nicht aber besonders tiefgreifend ist. Christian Bale macht seine Sache gut und gibt dem Film einen emotionalen Bezugspunkt. Die Erwachsenen hingegen sind entweder blass (etwa Bill Pullman), oder sie übertreiben in ihrer Darstellung maßlos, wie etwa im Fall von Robert Duvall als Joseph Pulitzer. Gerade die Nebendarsteller Duvall und Ann-Margret tun den Film mit ihren Leistungen aus künstlerischer Sicht überhaupt nicht gut, verstärken aber enorm den Spaßfaktor.
Bei einem Musical ist es natürlich immer besonders wichtig, wie gut die Musik denn nun abschneidet. Newsies ist in diesem Belang recht unauffällig. Der generelle Stil der Lieder ist sehr familiär, erinnert an kleinere, dramatische Musicals aus der Zeit zwischen dem Glamour-Boom und der Renaissance zu Beginn der 90er Jahre und bricht selten aus diesem Klangschema aus. Mit Alan Menken als Komponisten kann man sich jedoch gewohntermaßen auf einige hartknäckige Ohrwürmer einstellen. Die Szenenstücke, wie das Eröffnungslied Carrying the Banner oder den wiederkehrenden Titel The World Will Know finde ich recht blass, während das "Ich will"-Lied Santa Fe, welches die Abenteuerlust und das Fernweh von Bales Figur mit seiner Klangverschmelzung von Western-Versatzstücken und klassischem Broadway-Sehnsuchtsballadenschmalz besingt, eines der interessanteren und originelleren Lieder aus Newsies ist. Die mit der Goldenen Himbeere prämierte, eingeschobene Vaudeville-Nummer High Times, Hard Times wiederum ist eigentlich recht kurzweilig, jedoch ziemlich überflüssig und auch klischeebeladen. Der Anti-Preis ist dennoch unverdient, selbst wenn der bei Disney fast schon unverzichtbare Slot des Spaßsongs viel erfrischender und kecker durch King of New York erfüllt wird, einer augenzwinkernden Feiernummer der Zeitungsjungen, in der sie nach einem Zwischensieg davon träumen, was sie sich alles gönnen können. Wie etwa Havannas für einen Vierteldollar. King of New York, Alan Menkens Lieblingsnummer aus Newsies, ist auch in exakt dem Tonfall gehalten, der diesem Musical konstant gut getan hätte. Es hat eine grundlegende Ehrlichkeit in sich, aber auch ein verschmitztes Lächeln.
Mein Lieblingsstück aus Newsies ist dennoch das als Protestlied der Zeitungsjungen eingeführte Seize the Day. Es ist eine dieser typischen Musical-Massennummern, inklusive dem markanten Disney-Touch und amüsantem, noch knapp vor dem Overkill eingesetztem Pathos. Der dezente irische Flair bringt Schwung rein, gleichzeitig setzt man mit unisono gesungenen, langgezogenen Textpassagen auf Gänsehaut-Wirkung. Es ist schwer, es im Gesamtkontext des Musicals komplett ernst zu nehmen, doch ein schönes Lied.
Dies bringt mich auch zur Choreographie in Newsies: Kenny Ortega muss man es einfach lassen, dass er wirklich viel von diesem Geschäft versteht. Nicht umsonst war er einer der Vertrauensmänner Michael Jacksons und was man auch von der High School Musical-Musik halten mag, die Tanzschritte waren eine großartige Mischung aus jung und frisch sowie ehrwürdigen Hommagen. Auch Newsies versteckt ein paar Verbeugungen vor großen Meistern mit aufwändigen, eigenen Tanzschritten, die auch allesamt von der Kamera gut eingefangen werden. An Produktionswerten hat Disney bei Newsies sowieso nicht gespart... Jedoch hat Ortega gerade bei der wohl sehr ergreifend und inspirierend wirken wollenden Reprise von Seize the Day ein weeeeenig zu mordern gedacht, weshalb man sich das Grinsen in der Sequenz kaum verkneifen kann. Aber seht selbst:
Da respektiert man Leute wie Gore Verbinski sogleich um ein vielfaches mehr. Denn so hätte die Eröffnungssequenz von Pirates of the Caribbean - Am Ende der Welt bestimmt ebenfalls aussehen können... Im großen Finale von Newsies passiert ein ähnlicher Patzer. Das eh schon recht kitschige Ende wird von einem lachhaften Mini-Auftritt böse untergraben... Auch wenn man ihn sich bestimmt denken kann, will ich ihn hier nicht verraten. Doch ich habe keine Hemmungen zu sagen, dass es nicht so aussieht, als wäre da am Rande des Bildes ein Schauspieler, sondern ein ausrangierter Audio-Animatronic, den man aus dem Disneyland geklaut und auf's Set verfrachtet hat. Und ja... auch sowas vergrößert nur den Kultfaktor von Newsies.
Kurzum: Newsies ist ein sehr gut gemeintes Musical-Drama, das ganz nüchtern betrachtet schlicht ein mittelmäßiger Disney-Realfilm unter vielen ist, aber diesen altbekannten, ungewollten Charme hat, der viele Kultfilme ausmacht. Nicht, dass er so schlecht ist, dass er wieder gut wird... Nein. Newsies ist einfach nur so anders als von seinen Machern geplant, dass er unversehens vergnüglich wird.
Weitere Kritiken:
Yup. Zieh den Darstellern in der Reprise von "Seize the day" was rot-weißes an und du fühlst dich ins HSM-Universum katapultiert.... Ach was soll's, Kenny, J. S. Bach hat sich schließlich auch ständig selber zitiert....(so wie Alan Menken...und Disney im Allgemeinen...aber macht das nicht grad den Charme und den Spaß aus?)
AntwortenLöschenIch bin seit weit mehr als 10 Jahren eingefleischter "Newsies"-Anhänger ... und war danach auch jahrelang Christina-Bale-Fan ;o) ("Swing Kids" und "Betty und ihre Schwestern" habe ich damals auch vergöttert). Aber das liegt sicher nicht an der Story, die eher schmückendes, nicht so wirklich gelungenes Beiwerk für mich ist. Die Songs und Choreografien hatten es mir angetan. Ich habe mich über Disney aber auch zu einem großen Musical-Fan entwickelt.
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