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Sonntag, 12. Dezember 2010

GCPTDR#3: Das zarte Blümlein namens Rapunzel

Wer keine Spoiler lesen möchte, sollte mit dem Weiterlesen bis nach dem Filmgenuss warten!

Getting Crap Past The Disney Radar ist eine unregelmäßige Artikelreihe in diesem Blog, in der unterschwellige sowie überraschend offensichtliche Inhalte beleuchtet werden, die man so nicht in der familiengerechten Disney-Welt erwartet hätte. Diese Ausgabe beschäftigt sich mit dem Disney-Animationsmeisterwerk Rapunzel und geht ausführlich auf mehrere Szenen des Films ein.  

Disneys nunmehr 50. Animationsfilm, der als Teil des Meisterwerke-Kanons betrachtet wird, ist bekanntermaßen eine gewohnt freie Adaption des grimm'schen Rapunzel-Märchens. In dieser Fassung der klassischen Geschichte wird der ordinäre Rapunzeln-Feldsalat durch eine magische Blume ersetzt, die entsteht, wenn ein einzelner Tropfen Sonnenlicht den Boden berührt. Soviel nochmal dazu, dass Disney bei seiner läppisch mit Neu Verföhnt untertitelten Produktion den Zauber früherer Märchenadaptionen über den Haufen wirft. Obschon Disneys einzige verwirklichte Kinoadaption von Rapunzel weniger magisch-märchenhafte Elemente aufweist als das 2006 in einer kompletten Umkehr vom Shrek-haften Rapunzel Unbraided angedachte Märchenepos unter Glen Keane, so hat Byron Howards und Nathan Grenos Rapunzel einen zauberhafteren Ursprung als die deutsche Vorlage.

Wenn man in der Nähe besagter magischer Blume eine bestimmte Zauberformel singt, erfüllt sie ein anmutiges Leuchten und sie strahlt Verletzungen und den natürlichen Alterungsprozess überwindende Heilkräfte aus. Über Jahrhunderte hinweg behielt die einsiedlerisch lebende Gothel das Geheimnis dieser magischen Blüte für sich. Als die Frau des Königs kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes erkrankt, schickt dieser seine Soldaten ins Land hinaus, um nach einem Wunder zu suchen. Zufällig stoßen sie dabei auf die gülden leuchtende Blume, welche ausgekocht und der Königin als Heiltrunk überreicht wird. Die Kräfte der durch einen Sonnentropfen geborene Pflanze übertragen sich auf das erblondete Neugeborene des Königspaars - und dieses Himmelsgeschenk offenbart sich als großes Verhängnis. Ungewillt wieder den Schrecken des Alterns ausgesetzt zu sein, entführt die selbstverliebte Einsiedlerin die Prinzessin, sperrt sie in einen Turm und zieht sie wie ihr eigenes Kind auf.

Wie sich diese Geschichte weiterentwickelt, dürfte sicherlich aus den Trailern zum Film bekannt sein, völlig gleich, wie tonal irreführend einige von ihnen sein mögen: Einen Tag vor Rapunzels 18. Geburtstag stiehlt der draufgängerische Dieb Flynn Rider das Diadem der vermissten Prinzessin aus dem Palast und flüchtet in den abgeschiedenen Turm, den Rapunzel ihr Zuhause nennt. Flynn wird von der verschreckten Blondine ohnmächtig geschlagen und seines wertvollen Diebesguts beraubt. Sofern er Rapunzel ins Königreich führt, damit sie die betörenden schwebenden Lichter, die alljährlich an ihrem Geburtstag erscheinen, aus der Nähe betrrachten kann, erhält Flynn seine Beute zurück.

Somit führt Flynn Rapunzel zum ersten Mal weg von ihrer biestigen Ziehmutter, hinaus in die Freiheit, wo sich das ungleiche Paar aus naiver, doch aufgeweckter Märchenprinzessin und selbstüberschätzendem Abenteurer langsam besser kennenlernt und näher kommt. Dass sich zwischen ihnen ein liebevolles Vertrauensverhältnis aufbaut, bleibt auch Gothel nicht verborgen, die ihnen folgte und ein innigliches Gespräch zwischen den Turteltauben belauschte. Als Flynn sich kurz wegbegiebt, wittert Gothel ihre Gelegenheit, um das junge Glück zu zerstören und Rapunzel von einer Rückkehr in ihre intriganten Arme zu überzeugen.

Gothel nimmt die erstmals in ihrem Leben gänzlich aufblühende Rapunzel ins Gebet und beschuldigt sie des Irrsinns und vollster Naivität. Diese herzliche Romanze mit Flynn habe sie sich bloß eingeredet, sie solle sich doch nur einmal ansehen, er habe überhaupt keinen Grund sie vom ganzen Herzen zu mögen und von ihr beeindruckt zu sein. Rapunzel solle zu Mutter zurückkehren, bevor Flynn sie verletzt, denn er wolle in Wahrheit nur das Diadem zurück, welches Gothel zur Demonstration ihres Standpunkts während ihres gesungenen Monologs dramatisch hervorzeigt...

Oh, also so sieht es aus...
Rapunzel weiß mehr, Rapunzel hat Erfahrung
So ein kluges, schlaues Kind
Rapunzel weiß mehr, fein, du bist dir sicher...
Geh' zu ihm und gib' ihm das
Ha, deshalb ist er hier,
lass dich doch nicht täuschen
Gib' es ihm, du wirst schon seh'n!
Glaub mir, mein Kind,
er wird schnell verschwinden.
Ich will nur dein Bestes, Kind!
Nein, Rapunzel weiß mehr,
er ist ja so ein Traumtyp...
Geh und mach mit ihm... den Test!
Lügt er, komm nicht heulend zu mir...
Mutter weiß mehr!

Dieses (Zieh-)Mutter/Tochter-Gespräch ist mit mehr Subtext beladen, als womöglich jedes andere Lied der Disney-Historie. Von doppeldeutig-komödiantischen Anleitungen zum Erklimmen der Ruhmesleiter abgesehen. Wenn man kurz die Erinnerung ausblendet, dass sich Gothel bei Flynns alleinigem Begehren auf sein Diebesgut bezieht, was beim Hören des Songs ohne die begleitende Szene zu sehen wahrlich nicht mehr schwer fällt, beschleichen einen schnell andere Deutungen des besprochenen Inhalts. Gewiss, Gothel redet Flynn aus eigennützigen Motiven schlecht, aber das ändert nichts an der Kernthematik dieses Liedes, nämlich dass eine Ziehmutter ihre heranwachsende Tochter davor warnt, dass sie sich ihre Liebesbeziehung nur schönredet und ihr Partner sie nur ausnutzt. Eine allegorische Lesart, in dem das Diadem für die Belange dieser Filmpassage für Rapunzels Hymen steht, und Gothel, aus Angst ihr unschuldiges Kind an einen durchtriebenen Schürzenjäger zu verlieren, das romantisch-verklärte Bild der jungen Blondine zu zerstören versucht, liegt von diesem Betrachtungspunkt aus nicht mehr fern.

"Zugegeben, er mag ein schmuckes Äußeres aufweisen, aber sei gewarnt Kind, in Wahrheit ist er nur hinter deinem Diadem her!" -"Mama, was heißt 'Diadem'?"

Selbstverständlich lässt sich das Krönchen nicht die gesamte Filmhandlung über mit Rapunzels Jungfräulichkeit substituieren. Dann raubte Flynn ja das Hymen der holden Blondine aus dem Hause ihrer Eltern, um es umwissend in einer Umhängetasche in ihr für ihre wahre Heimat gehaltene Gefängnis zu transportieren, nur damit Rapunzel es später unter einer Treppe versteckt - von wo es ihre schurkische Ziehmutter es herausholt, um es ihr in einer theatralischen Geste wieder zurückzugeben. Eine alles in allem verstörende Vorstellung, die mehr einer unabhängig finanzierten, geschmacklosen Nippon-Horrorkomödie geziemt, als eines Disney-Märchens.

Genausowenig handelt die Rapunzel-Adaption Disneys in ihrer Gesamtheit (auf subtextueller Ebene) von der Entjungferung einer zierlichen jungen Frau. Die beschriebene allegorische Deutung lässt sich vornehmlich an der Reprise von Mutter weiß mehr durchführen. Diese Einschränkung straft meiner Hypothese jedoch nicht des Wahnwitzes. In der Literatur ist es gang und gäbe, dass vereinzelte Motive bloß passagenweise in den Text hineinzulesen sind, da sie anderweitig die grundlegende Narrative behinderten.
Die antreibende Dynamik von Rapunzel ist allgemeiner betrachtet die Beziehung zwischen Rapunzel und Gothel, sie ist der Faden, an dem sehr viel der Glaubwürdigkeit dieser Disney-Produktion hängt. Wäre sie unglaubwürdig, so durchstöcherte der kritische Zuschauer sie mit Fragen wie "Weshalb ist Rapunzel nicht früher abgehauen?" und derartiges. Die Intensität, mit der sich das Regie-Duo Nathan Greno und Byron Howard sowie Drehbuchautor Dan Fogelman eben dieser Dynamik widmeten, gibt Rapunzel auch viel seiner dramatischen Qualität. Ihr Film handelt an vorderster Front von der Emanzipation der jungen Prinzessin, erst in zweiter Instanz von ihrer Beziehung zu Flynn. So etwas war, wenigstens in einer solchen Umsetzung, zuvor in disney'schen Märchen-Trickfilmen unbekannt. Allein bei Arielle lässt sich ein problematisches, wenngleich liebendes Verhältnis zu ihrem Vater ausmachen, welches in einem kausalen Zusammenhang mit ihrer Neugier über die menschliche Welt zu stehen scheint (wo diese Spirale ihren Anfang nahm, hängt von den betrachtenden Person ab, da wird wohl jeder seine Selbstreflexion auf die rothaarige Meerjungfrau übertragen). Die sehr voreilig eingeführte Zuneigung zu Prinz Eric nimmt, in meiner kritischen Betrachtung des beliebten Musicals, diesem Erzählstrang allerdings etwas von seinem dennoch nicht zu verachtenden Gewicht.

Zum Prozess des Erwachsenwerdens gehört die Verlust der Unschuld, in unterschiedlichsten Belangen, nicht bloß im sexuellen, naturgemäß dazu. So wird Rapunzel über die Ereignisse der Geschichte hinweg mehrfach handgreiflich, verspürt Wut, wo sie vorhergehend eher Enttäuschung ausstrahlte, und so weiter. Deswegen kommt es sicherlich nicht von ungefähr, dass Rapunzel von Unschuldssymbolik durchzogen ist. Das Symbol der langen Haare erbte Disney aus der Märchenvorlage, und zumeist stehen diese für Natürlichkeit (trifft auf Rapunzel insofern zu, dass sie im Turm von der Gesellschaft nicht "verdorben" werden konnte), Freihheit oder die Sehnsucht nach eben solcher (obwohl Rapunzel ihre Frisur nicht wählte, lässt sich diese Deutung zweifelsohne auf sie anwenden), Sinnlichkeit (kann jeder für sich selbst beurteilen) sowie Intellekt (ohne einige ihrer Vorgängerinnen beleidigen zu wollen, aber in einem Intelligenztest dürfte Rapunzel so manche Disney-Prinzessin weit hinter sich lassen). Zieht man obendrein seine Bibelkenntnisse zu Rate, erkennt man obendrein, dass langes Haar auch als Zeichen der jungfräulichen Heiligen genutzt wird. Das Sonnenlicht, welches der magischen Blume und Rapunzels Haar Macht verlieh, ist gleichfalls als Symbol der Reinheit bekannt - und auch zierliche Blumen lassen sich in diese Reihe einordnen. Die mit langem, güldenen Haar gesegnete Rapunzel, das Kind einer Königin, die einen Trunk aus dieser durch das Sonnenlicht in die Welt gesetzten Blume zu sich nahm, verinnerlichtdas Motiv der Unschuld demzufolge mehr, als jede Trickfilmprinzessin vor ihr. Und, so Yen Sid bewahre, auch mehr als jede nach ihr. Denn noch mehr und noch deutlichere Reinheitssymbolik, und man müsse dieser Prinzessin das Logo eines hauptsächlich für Plattenverkauf bekannten, britischen Mischkonzerns auf die Stirn tätowieren.

In Rapunzels Abkoppelungsprozess von Gothel spielt Flynn eine einschneidende Rolle. In seiner Begleitung traut sie sich erstmals aus ihrem vertrauten Gefängnis, aufgrund der von ihm eingeschlagenen Umwege erlebt sie Abenteuer, von denen sie vorher bestenfalls zu träumen wagte. Er ist an ihrer Seite, wenn sie im Königreich angekommen feiert, wenn sie und ihr Geiste erstmals im Gleichklang frei sein können und sie sich der Musik, dem Tanz, dem Vergnügen hingeben kann. Durch Flynn erlebt sie erstmals eine andere Liebe, als die herausgeforderte Liebe zwischen sich selbst und ihrer garstigen Ziehmutter. Es mag eine simple Aussage, die dahinter steckt, aber eine wertvolle bleibt sie dessen ungeachtet: Nur zweisam kann Rapunzel der Einsamkeit ihrer einengenden Kinderstube entkommen. Bezüglich ihrer sexuellen Unschuld, kommen im Anschluss an besagtes Lagerfeuergespräch zwischen Gothel und Rapunzel noch zwei weitere relevante Szenen vor: Behält man die Codierung im Hinterkopf, laut derer Flynns Begierde nach Rapunzels Krone, laut Gothel Flynns einziges Vorhaben, den Entjungferungsprozess bedeutet, gewinnt eine kurzes Gespräch zwischen den jungen Liebenden gänzlich neue Dimensionen: Als Rapunzel am Abend, auf den sie ihr Leben lang gewartet hat Flynn vorzeitig die versprochene Tasche mitsamt Diadem übergeben möchte, bremst ihr einfühlsam werdendes Gegegnüber die junge Prinzessin. Sie könne damit warten. Viel lieber möchte er mit ihr gemeinsam den atemberaubenden, romantischen Ausblick auf die sie umgebenden, schwebenden Laternen genießen. Flynn verzichtet auf seinen Lohn, das Diadem beziehungsweise den versprochenen Akt, und zieht ihm eine romantische Unternehmung, basierend auf reiner und unverdorbener Zuneigung, vor.

Am Ende des Films spaltet sich Rapunzel, als sie die Lügen ihrer Ziehmutter durchschaut, endgültig von Gothel ab. Daraufhin ist Flynn es, der Rapunzels Emanzipationsprozess besiegelt, indem er sie defloriert und so das letzte ändert, was zu diesem Zeitpunkt an Rapunzels anfangs eingeführter Verfassung erinnert. Die Defloration findet hier jedoch nicht im wörtlichen Sinne steht, sondern in einem poetisch übertragenen: Rapunzels durch eine magische Blume mit Zauberkräften versehenes, langes und güldenes Haar wird von Flynn unversehens abgetrennt.

Abschließend möchte ich zur in meiner Argumentation zentral liegenden Reprise von Mutter weiß mehr zurückkehren. Es wurde verraten, dass die Künstlerinnen und Künstler aus den Walt Disney Animation Studios Gothels Mimik, Gestik und Sprachduktus, ihr ganzes Verhalten, auf die nervigen Eigenheiten ihrer Mütter basierten. Aus diesen schlechten Erinnerungen an die eigene Kindheit rühren Gothels erzieherische Macken wie ihr anstrengendes Backenkneifen oder die verletztend vermittelten, angeblich lieb gemeinten Neckereien. Gothel stellt gewissermaßen ein Sammelsurium der schlechtesten Angewohnheiten der Mütter eines ganzen Studios dar. Halten wir uns nun also die Unterredung zwischen Gothel und Rapunzel vor Augen, wo erstere unsere junge, unverdorbene, teils naive Heldin vor der kühlen Berechnung eines Mannes warnt. Seien wir ehrlich: Es müsste schon mit Chernabog zugehen, wenn in diese Sequenz keinerlei Pubertätserfahrungen einiger Disney-Mitarbeiterinnen einflossen. Selbst wenn man sich der subtextuellen Deutung von Disneys Rapunzel verwehrt, wem möchte man erzählen, dass vergleichbare, reale Erfahrungen nicht Einfluss auf die Gestaltung der dramatisierten Reprise von Mutter weiß mehr nahmen?

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    3 Kommentare:

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    2. Klar, die Untertöne sind sicher da - man muss nur mal versuchen, die Reprise ohne Bilder zu hören und nicht "misszudeuten".

      Was mich daran aber irritiert ist die daraus folgende Interpretation: "Er ist nur hinter deiner Jungfräulichkeit her. Wenn du's mir nicht glaubst, probier's doch aus; schlaf mit ihm und dann sehen wir, was passiert!"
      Ist jetzt nicht die typischste "Überbesorgte Mutter"-Haltung, oder?

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    3. @ Lynniana: Danke für's Lob. :-)

      @ Clochette: Ich denke, du liest da in Gothels "Erlaubnis" einen falschen Akzent. Es ist Resignation nach vergeblichen Versuchen, ihn ihr auszureden. "Fein, meinetwegen, wenn du lachend in die Kreissäge springen willst, belib bei ihm, aber komm dann nicht an und sag', ich hätte dich nicht gewarnt."

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