Historie einer kaum erwähnten Musikgattung
(ein Gastbeitrag von Holger “EdiGrieg“ Paulsen)
Für Disneys kommenden Streich an das Nintendo Wii System hat der Mäuse-Konzern ein höchst interessantes Team zusammengestellt. Warren Spector, Firmengründer von Junction Point, ist dem versierten Gameplayer selbstredend kein Unbekannter. Seine Karriere von Origin bis Looking Glass beinhaltet vor allem Meilensteine wie die Ultima-Reihe, die Wing Commander-Serie, System Shock, Dark Project - Der Meisterdieb und Deus Ex. Das Novum dieser Spiele ist neben einer echten Story die nahezu totale Handlungsfreiheit des Spielers. Was dies für das Gameplay von Epic Mickey bedeuten könnte und wahrscheinlich auch wird, muss man nicht erklären und soll hier auch nicht das Thema sein. Hier geht es um etwas, das meiner Meinung nach bislang noch keiner großen Würdigung widerfahren ist: flexible Musik. Um zu erklären, was das eigentlich ist, sollte man damit beginnen, das genaue Gegenteil zu beschreiben, nämlich statische Musik. Die hören wir jeden Tag im Radio. Eine Strophe, einen Refrain, vielleicht eine Coda und die üblichen Wiederholungen bis zum Ende. Den Versuch, dieser Statik entgegenzuwirken, haben bereits barocke Komponisten im 17ten Jahrhundert unternommen, aber soweit will ich hier nicht ausschwenken. Wir reisen zurück in die Zeit des C64, dem Heimcomputer, der die Spielewelt veränderte – auch in akustischer Hinsicht. Statt einer recht kurzen Melodienfolge zu Beginn des Spiels (berühmt wurde wohl das Intro zu Pac Man) waren nun Kompositionen größerer Länge möglich. Aufgrund des immensen Speicherbedarfs zunächst nur als Intro-Musik zu hören, gab es nach und nach auch immer mehr Spiele, die einen Score auch während des Gameplays anboten. Doch bereits in diesen Anfängen musste eine Nuss geknackt werden. Die variable Länge eines Spiels, je nach Verhalten des Joystickhalters, erforderte vom tonalen Background eine gewisse Unendlichkeit. Ein statisches Stück immer und immer wieder abzuspielen widersprach dem Gedanken der Spiel-Kontinuität und für mehrere Songs reichte der Speicher einfach noch nicht aus. So wurde, mit einem schielenden Auge auf die damals ebenfalls im Werden befindliche Hip Hop Generation (die ihrerseits wiederum bei den Düsseldorfern Kraftwerk luscherte) der Loop erfunden. Das Ende eines Songs geht erneut über in den Anfang – eine Endlosschleife. Zu 99 Prozent ist das auch heute noch Gang und Gäbe, die Geschichte der Game-Musik reicht von 10 Sekunden Loops – ja genau die, die man bereits nach 5 Minuten Spielzeit genervt weg regelt – bishin zu herrlichen Kompositionen, die bis zu einer viertel Stunde (oder länger) gehen und den Spieler verleiten können, seine Figur in eine Ecke zu stellen, um sich einfach mal dem Soundtrack hinzugeben. Loops: Nichts weiter als eine im Binärsystem mögliche Spielerei, sicherlich, aber für das Spielegenre eine ebenso große Erfindung wie Sprites, Extrawaffen und automatisches Kartografieren. Letztendlich trägt die Musik eines Spiels entscheidend dazu bei, ob und wie tief sich ein Spieler in die virtuelle Welt hinein versetzt. Die Geschichte der erfolgreichsten Videospiele geht einher mit brillanten Soundtracks, die fesseln statt nerven. Man denke an Kōji Kondō (Super Mario / Zelda), Michael Land (The Secret of Monkey Island) oder Robert Holmes' Gänsehaut-Score zur Gabriel Knight-Serie.
Dass ein Rechenchip jedoch noch viel mehr vermag als Endlos-Loops, bewies bereits 1984 Spielprogrammierer und Komponist David Whittaker. Sein Soundtrack zum Klassiker Lazy Jones war ein großer Schritt nach Vorne, und das nicht alleine, weil dieser WÄHREND des Spiels zu hören war – für die damalige Zeit eine ungeheuere Leistung. In einer Reihe von Hotelräumen musste die Figur Jones kleine Minispiele im Spiel bewältigen. Jeder Raum beinhaltete sein eigenes musikalisches Thema, das durch die gleiche Rhythmusstruktur nahtlos an das Hauptthema anschloss. Neben Loops von Nena (99 Luftballons), Visage (Fade to Grey) und Blancmange (Living on the Ceiling) flossen auch Eigenkompositionen Whittakers ein, die heute noch Hobbyforscher ob ihrer musikhistorischen Herkunft in den Bann ziehen. Lazy Jones, so simpel das Spiel selbst auch anmutete, ist sowohl vom Gameplay als auch in musikalischer Hinsicht ein Potpourri des Zeitgeschmacks der 80er Jahre. Der Loop “Star Dust“ wurde 15 Jahre später, als Loops durch Techno längst Common Place in den Charts waren, vom Münchner Projekt Zombie Nation (Florian Senfter) zum Kulthit Kernkraft 400 verwurstelt, der von den Sportarenen der Welt bis zu einer saftigen Tantiemenklage Whittakers seine eigene Geschichte parat hält. “Star Dust“ ist bis heute der berühmteste Loop der Musikgeschichte. Aber ich schweife mal wieder ab ...
Vier Jahre später kam Origins erstes Rollenspiel Times of Lore auf den Markt. Für den Score zeigte sich Martin Galway (l.) verantwortlich. Als Komponist für C64 Games stand die Insider-Berühmtheit zwar etwas im Schatten von Kultkomponisten wie Rob Hubbard und Ben Daglish. Technisch war er seinen Kollegen jedoch mehr als eine Nasenlänge voraus. So schaffte er es, dem 3-Spur-Kanal-Systems des SID-Chips, dem musikalischen Herz der “Brotdose“, eine vierte Spur zu entlocken, um auf ihr Samples abzuspielen. Für Times of Lore nutzte Galway seine Technik, um den Computer per Algorythmus die Akkorde der von ihm komponierten Melodie zufällig auswählen zu lassen. So entstand quasi ein Endlossong, der sich auch nach längerer Zeit nicht zwangsläufig wiederholen musste. Was hätten Ralf Hüttner und Florian Schneider-Esleben Herrn Galway wohl bezahlt, um diese Technik auch auf Schallplatte anbieten zu können?
Noch einmal sieben Jahre weiter. Bei Origin arbeitete inzwischen auch, wie schon erwähnt, Warren Spector. Sein Spielehit System Shock von 1995 bohrte (zusammen mit den beiden Ultima Underworld-Teilen) die damals noch recht frische Technologie der Ego-Ansicht in derart innovativer Weise auf, dass es die Spielewelt in seinen Grundfesten erschütterte. Dass bei aller Euphorie damals wie heute der Soundtrack zum Spiel völlig unter den Tisch gekehrt wird und wurde, ist eine traurige Fußnote, denn abgesehen von den genialen Kompositionen selbst, die übrigens von Greg Lo Piccolo and Tim Ries erdacht wurden, geleitete die Crew um Spector die Idee der flexiblen Musik auf die nächste Stufe: dem situationsbedingtem Soundtrack. Nahezu jedes Deck der Raumstation Citadel beinhaltete seinen eigenen Score, der aus verschiedenen Variationen eines Grundthemas bestand und individuell während des Spielverlaufs zusammengemischt wurde. Verweilt der Spieler in einem Bereich des Levels, wird lediglich der Grund-Loop endlos abgespielt. Betritt er jedoch bestimmte Szenarien, die storytechnisch entscheidend sind oder einfach nur erheblich mehr Action erfordern, änderte sich die Musik dementsprechend. Kleine Drum- oder High Heels-Sequenzen leiteten dabei den Übergang in eine neue Variation ein. Somit wurde der Spieler unterbewusst zum Remixer seines eigenen Spielescores, was die ohnehin schon gruselige Atmosphäre des Spiels noch verstärkte.
Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die flexible Musik 2006, als sie das virtuelle Busenwunder Lara Croft akustisch unterstützte. Für Tomb Raider: Legend komponierte der Däne Troels Brun Folmann ganze 88 Tracks mit einer Gesamtspielzeit von fast 4 Stunden. An der Masse des Material programmierten sich die Sounddesigner Mike Peaslee (l.) und Karl Gallagher die Finger wund. Dass sich die ineinander verwobenen Loops der Spielsituation dynamisch anpassen, geht im orchestralen Sound geradezu unter. Längst vorbei sind die Zeiten der binären Ring- und Sägezahnmodulationen, welche dem virtuellen Klang von Sinfonieorchestern weichen mussten.
Die Technik schreitet immer schneller voran und wird noch viele Innovationen hervorbringen. Dass Martin Galway und Warren Spector nun Hand an Epic Mickey gelegt haben, lässt auf die nächste Generation flexibler Musik hoffen. Wenn die beiden im Promo-Video zum Spiel von einem epischen Score reden, der Dich zu Tränen rühren kann, bin ich jedenfalls bedingungslos gewillt, dies zu glauben. Bislang hatte ich nicht das Gefühl, dass eine Wii mein Leben bereichern könnte, aber ein Erfolg von Epic Mickey könnte diese Einstellung kippen. Ob das Spielprinzip selbst mich als 42jährigen fesseln kann, steht zwar noch in den Sternen, aber ich selbst propagiere ja schließlich auch Zeichentrick als Pro-Mature jenseits des Kinderkrams. Warum soll die kleine Maus, die mich bereits ein Leben lang begleitet, dies nicht auch einmal im Videospiele-Sektor schaffen? Ich lasse meine Augen und vor allem Ohren gerne überraschen.
Zum Autor: Holger Paulsen alias "EdiGrieg" ist im Internet vor allem als Trickfilm-Junkie und Synchronisationsexperte bekannt. Sein Disney Synchron Archiv ist ein Pflichtlesezeichen für jeden Liebhaber der deutschsprachigen Fassungen von Disney-Trickklassikern und in seiner Anistory widmet er sich darüber hinaus dem Animationsfilm außerhalb des disney'schen Tellerrandes. Anlässlich des anstehenden Veröffentlichungsstarts des Wii-Titels Epic Mickey ist es ihm eine Freude, uns an einer weiteren großen Leidenschaft teilhaben zu lassen: In erster Linie ist er mit ganzem Fleisch und Blut Musiknerd.
Dickes Lob an Edi! Dürfen wir dich nun öfter als Gastschreiber erleben?
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