Stehen die Oscars nächstes Jahr Kopf?
Wie die Zeit verfliegt: Mir kommt es so vor, als wären erst letzten Monat die Oscars verliehen worden, aber wir schreiben bereits Oktober. Da drängt sich doch eine neue Oscar-Prognose auf! Die Sommer-Blockbuster (und vor allem die "Blockbuster") sind bis auf die wichtigen Highlights wieder vergessen, erneut kann man nur wenigen ernsthafte Chancen auf eine Nominierung als "Bester Film" anrechnen und der Oscar-Hype um die wichtigsten Herbst- und Winter-Produktionen lässt sich ebenfalls seit längerem vernehmen.
Also möchte ich nicht weiter Zeit verlieren und mich sofort in die Arbeit stürzen:
Welchen Filmen traue ich eine Nominerung als "Bester Film" zu und wieso überhaupt?
Die Prognosen basieren wie immer auf Bauchgefühl, Erfahrung mit den Oscars, Beobachtungen der Oscar-Blogging-Szene und Kritikereinschätzungen.
Die Hauptkandidaten:
Film: Inception
Regisseur: Christopher Nolan
Produzenten: Christopher Nolan, Emma Thompson
Studio: Legendary Pictures, Syncopy Films, Warner Bros.
Oscar-Spot: "Der erfolgreiche und anspruchsvolle Blockbuster"
Inception bewies Hollywood: Originelle Filme können in einer Zeit von Comicadaptionen und Fortsetzungen ungebrochenen Erfolg haben. Inception bewies ebenfalls: Das Publikum rennt nicht schreiend davon, wenn es mitdenken und aufpassen muss. Mit seinem bislang aufwändigsten und eigenen Aussagen nach zu urteilen auch persönlichsten Film gelang Christopher Nolan ein ganz großer Wurf, der auch dem letzten Zweifler gezeigt haben sollte, dass Nolans Erfolg mit The Dark Knight nicht ausschließlich Heath Ledger zu verdanken war. Der Traum-im-Traum-Actionthriller stellt auf einfallsreiche Weise das Einbrecher-Genre auf den Kopf und lädt zu stundenlangen Diskussionen ein. Die Kritiker liebten ihn, das angeblich ach-so-dumme Publikum ebenfalls. Und die Academy, die hat was für The Dark Knight wieder gut zu machen...
Wahrscheinlichkeit: 95%
Film: The Social Network
Regisseur: David Fincher
Produzenten: Scott Rudin, Kevin Spacey, Dana Brunetti, Michael De Luca, Ceán Chaffin
Studio: Relativity Media, Trigger Street Productions, Columbia Pictures
Oscar-Spot: "Eine wahre Geschichte" / "Ein Film über diese Generation"
Es könnte ein Oscar-Kandidat aus dem Lehrbuch sein: Respektierter Regisseur, wahre Geschichte, menschliche Dramen, ein Stückchen Justizdrama, Kommentare über den Zeitgeist einer Generation. Was The Social Network freudig vom berechneten Oscar-Köder abhebt: Dieser Film ist nicht berechnend und bettelt nicht sichtbar um Filmpreise. Es ist ein spannendes Drama, das Grundlage für interessante Diskussionen liefert und sehr kurzweilig anzusehen ist. The Social Network könnte manchen Zweiflern zu aktuell für eine Oscar-Nominierung sein. Für solche Preise muss ein Ereignis erst etwas Staub ansetzen. Michael Moore wurde für seine Aussagen über den Irak-Krieg ausgebuht, vor ein paar Monaten bekam Kathryn Bigelow für The Hurt Locker einen Oscar. Das Thema Internet soll angeblich an den älteren Academy-Mitgliedern vorbeirauschen. Aber The Social Network nutzt zwar den Facebook-Gründer als Sprungbrett, die eigentlichen Themen des Films sind aber zeitlos. Außerdem dürfte sich die Qualität auch bei jenen durchsetzen, die nichts mit Facebook am Hut haben.
Wahrscheinlichkeit: 95%
Film: Toy Story 3
Regisseur: Lee Unkrich
Produzenten: Darla K. Anderson, John Lasseter, Nicole Paradis Grindle
Studio: Pixar Animation Studios, Walt Disney Pictures
Oscar-Spot: "Die herzliche Komödie mit überraschendem Ernst" / "Der Pflichtblockbuster unter den Nominierten"
Die Pixar Animation Studios mussten über mehrere Jahre hinweg die Grenzen um das Animationsghetto aufweichen, und letztlich haben sie (wohl auch einer Regeländerung sei Dank) es geschafft: Oben war der bislang zweite Animationsfilm, der in der Hauptkategorie nominert wurde. Toy Story 3 erhielt mehr positive Kritiken als Oben und diese Lobeshymnen waren meistens auch deutlich euphorischer. Toy Story war der erste Animationsfilm, der je für einen Drehbuch-Oscar nominiert wurde - könnte der erwachsenere dritte Teil also konsequent den Sprung schaffen und als bester Film nominiert werden? Ich würde es mir wünschen und eigentlich spricht nicht viel dagegen. Der Pate III und der letzte Teil von Der Herr der Ringe wurden ebenfalls nominiert, also muss man nicht über einen Fortsetzungshass lamentieren. Laut der NY Times ist Disney bereit für eine gewaltige Oscar-Kampagne, man hofft darauf, dass sich ein "Pixar ist überfällig"-Gefühl einstellt. Ja, Awards Daily sprach sogar davon, dass sich Disney auf einen Sieg bereit macht - genauso wie einige Oscar-Blogger und -Insider. Aber man sollte den Sekt erst kaufen, wenn man weiß, ob man was zu feiern hat. Erst die Nominierung, dann der Oscar, dann die Welt. Außer Deutschland, wir wollen ja nicht...
Wahrscheinlichkeit: 95%
Film: Black Swan
Regisseur: Darren Aronofsky
Produzenten: Mike Medavoy, Scott Franklin, Arnold Messer, Brian Oliver
Studio: Protozoa Pictures, Phoenix Pictures, Fox Searchlight Pictures, Cross Creek Pictures
Oscar-Spot: "Künstlerisch wertvoller Thriller"
Aronofsky dreht ein besser budgetiertes, farbiges Remake seines Debütfilms Pi und aus Versehen entsteht dabei ein Ballett-Film. So könnte man Black Swan bezeichnen. Pi war zu obskur für die Oscars, Requiem for a Dream wurde um eine Nominierung als bester Film betrogen. Mit The Wrestler hielt sich Aronofsky im Gedächtnis der Academy (zwei Darsteller-Nominierungen), jetzt ist es an der Zeit für ihn.
Wahrscheinlichkeit: 85%
Film: The Kids Are Alright
Regisseur: Lisa Cholodenko
Produzenten: Annette Bening, Julianne Moore, Mark Ruffalo, Mia Wasikowska, Josh Hutcherson
Studio: Focus Features
Oscar-Spot: "Der herzlich-leichte Film"
Ein komödiantisches Drama über zwei durch künstliche Befruchtung erzeugte Menschen, die ihre biologischen Väter ausfindig machen und zu einem Familienessen einladen. Die Kritiken sprechen von einem tiefsinnigen, leichtherzigen und warmen Film mit viel Charme. Gutes Oscar-Material mit Relevanz für den Zeitgeist. Lief im Kino unter Ausschluss der Öffentlichkeit, was vielleicht ein Hinderungsgrund sein könnte.
Wahrscheinlichkeit: 80%
Film: The King's Speech
Regisseur: Tom Hooper
Produzenten: Iain Canning, Emile Sherman, Gareth Unwin
Studio: See Saw Films, Bedlam Productions, The Weinstein Company
Oscar-Spot: "Harvey Weinstein" / "Historiendrama"
Von wahren Ereignissen inspiriertes Historiendrama über König George VI, der aufgrund seiner Sprachprobleme einen Logopäden aufsucht, um zu einem besseren Redner zu werden. Eine vom Vorhof des Zweiten Weltkrieges überschattete Geschichte. Mit Colin Firth, Geoffrey Rush und Helena Bonham Carter prominent besetzter Film aus dem Studio des einstigen Oscar-Magnaten Harvey Weinstein. Ich erwarte keinen Film, der groß von sich reden macht oder sich ins Gedächtnis der Cineasten einprägt. Aber man kann einen typischen Oscar-Nominierten erwarten, etwas, das früher "und dieser fünfte noch" geworden wäre.
Wahrscheinlichkeit: 79%
Film: 127 Hours
Regie: Danny Boyle
Produzenten: Christian Colson, John Smithson, Danny Boyle
Studio: Cloud Eight Films, HandMade Films International, Fox Searchlight
Oscar-Spot: "Dramatischer wahrer Thriller"
Danny Boyle (Slumdog Millionär) dreht einen dramatischen, wahren Thriller über einen Kletterer, der einen Canyon hinunterstürzt und sich seinen Arm unter einem Felsen einklemmt. Keine sonderlich neue Idee, die sowohl komisch, als auch horrormäßig wie auch dramatisch bereits umgesetzt wurde. Boyle legt den Fokus darauf, wie der Mann (gespielt von James Franco) nach dem Unfall sein Leben überdenkt. Könnte prätentiös enden, doch die bisherigen Kritiken sind herausragend. Könnte zu anders für die Oscars sein. Aber, wie man nun so oft einwerfen kann: Mit 10 Nominierten in der Hauptkategorie...
Wahrscheinlichkeit: 78%
Film: The Town
Regie: Ben Affleck
Produzenten: Graham King, Basil Iwanyk
Studio: Legendary Pictures, GK Films, Thunder Road Film, Warner Bros.
Oscar-Spot: "Sozial-Drama/-Thriller"
Gone Baby Gone wurde bereits mit einigen Kritikerpreisen ausgezeichnet. Die Academy gönnte Afflecks Regiedebüt immerhin eine Darsteller-Nominierung. Manche Zungen würden sagen, dass der Entführungkrimi zu pessimistisch für die Oscars war. The Town ist weiterhin von einer Grau/Dunkelgrau-Mentalität geprägt, aber nicht gänzlich so schwarz wie die Gone Baby Gone. Hinzu kommen stattlichere Einnahmen und somit auch die Chance auf mehr Fans innerhalb der Academy (denn man wählt ja nur das, was man auch gesehen hat). The Town hat das Oscar-Problem, dass er in keinen Belangen so herausragend ist, dass er größere Chancen auf eine Nominierung hätte, als Gesamtwerk hätte er aber eine Nominierung verdient. Theoretisch könnte es dank der Neuregelung funktionieren, bereits dieses Jahr wurden Filme nominiert, die sonst keine Oscar-Nominierung aufzuweisen hatten. Dennoch bleibt Afflecks spannendes Kriminaldrama ein leicht schwammiger Tipp. Es mangelt halt an Erfahrung mit dem Zehn-Filme-Feld...
Wahrscheinlichkeit: 78%
Film: True Grit
Regisseur: Ethan & Joel Coen
Produzenten: Ethan & Joel Coen, Scott Rudin, Steven Spielberg
Studio: Scott Rudin Productions, Skydance Productions, Mike Zoss Productions, Paramount Pictures
Oscar-Spot: "Besonderer Film aus nicht 100% oscarytpischem Genre"
Bisheriges Filmmaterial lässt mich nicht vermuten, dass die Coens an No Country for Old Men / Burn After Reading / A Serious Man anschließen können, aber Insiderstimmen sprechen eine andere Sprache. Und ich vertraue auch darauf, dass der erste Trailer am eigentlichen Film und seinem Reiz vorbeirauscht. Das Ensemble spricht für ihn - und die Coens wurden auch für die Hiobskomödie A Serious Man nominiert, die nicht unbedingt der klassische Kandidat für eine Nominierung ist.
Wahrscheinlichkeit: 75%
Film: Secretariat
Regisseur: Randall Wallace
Produzenten: Mark Ciardi, Gordon Gray
Studio: Walt Disney Pictures
Oscar-Spot: "Die inspirierende wahre Geschichte"
Secretariat könnte ein schwieriger Fall werden. Die "inspirierende, wahre Geschichte" über ein Rennpferd kommt bei den Kritikern gut, nicht aber sehr gut an. Allerdings hat der Film nicht nur alle Zutaten für eine Oscar-Nominierung, er soll wohl in den, nennen wir es Oscar-Indikatorkreisen, sehr gut ankommen. Weshalb man davon ausgehen kann, dass einige Academy-Mitglieder ebenfalls großen Gefallen an ihm finden. Solche Filme, die bei der Academy besser ankommen als bei den Kritikern, gibt es ja immer wieder. Der Vorleser, Wenn Träume fliegen lernen... Vielleicht auch Secretariat? Der Oscar-Buzz ist jedenfalls heiß genug und es gibt religiöse Symbolik, die ja durchaus ankommen könnte.
Wahrscheinlichkeit: Treiben wir ein wenig Legendenbildung... In den 90ern wäre der Film natürlich nicht von Disney, sondern von Tochterunternehmen Miramax Films produziert worden. Mit Hollywoodmogul Harvey Weinstein auf seiner Seite, hätte Secretariat acht Nominierungen eingeheimst, darunter für die Kamera, den Schnitt, Hauptdarstellerin Diane Lane und als bester Film. Und wer weiß, vielleicht hätte er einen zweiten Shakespeare in Love abgezogen und die Fans von Toy Story 3, The Social Network und Inception im Hass auf den Sieger Secretariat vereint. Aber heutzutage und ohne Weinstein? 70%
Der Ersatzkandidat:
Film: Blue Valentine
Regisseur: Derek Cianfrance
Produzenten: Doug Dey, Lynette Howell, Carrie Fix, Alex Orlovsky, Jamie Patricof, Jack Lechner
Studio: The Weinstein Company
Oscar-Spot: "Wahre Kunst schmerzt"
Ein Liebesdrama mit Ryan Gosling und Michelle Williams als Ehepaar in den Hauptrollen. Der Film folgt ihre Beziehung über mehrere Zeitebenen hinweg und soll so ehrlich sein, dass es wehtut. Auf Filmfestivela kam er sehr gut an, die Vorschusslorbeeren sind herausragend. Die Weinstein Company wird den mit einem MC-17-Rating freigegebenen Film mit einem limitierten Start Ende Dezember regulär in die Kinos bringen. Inhaltlich könnte es ein Oscar-Kandidat sein (ein Paar zu verschiedenen Zeiten seiner Beziehung), das NC-17-Rating könnte Fluch und Segen sein. Unverschähmt ehrlich und künstlerisch wertvoll sprechen für eine Nominierung, das Tabu, dass dieser Freigabe mittlerweile anhaftet und die zu erwartende zu stark pessimistische Haltung des Films gegen eine Nominierung.
Wahrscheinlichkeit: 65%
Mein persönlicher Außenseitertipp:
Film: Tron Legacy
Regisseur: Joseph Kosinski
Produzenten: Sean Bailey, Jeffrey Silver, Brigham Taylor, Steven Lisberger, Julien Lemaitre
Studio: LivePlanet, Idealogy Inc, Walt Disney Pictures
Oscar-Spot: "Ein Film wo keiner mit rechnet"
Ich höre schon die Lacher und sehe das Augengerolle. Aber wartet es nur ab, sollte Tron Legacy die cineastische Überraschung des Jahres sein, dann werdet ihr mich um mein visionäres Vertrauen beneiden. Und wenn Tron Legacy am unteren Erwartungsende läuft, künstlerisch wie kommerziell, dann lachen wir diesen Vorschlag halt schnell ab. Es ist Action, es ist Sci-Fi. Es ist kein Oscar-Material und ohne James Cameron kann man die Zweifler nicht so leicht bekehren. Aber ja, manchmal wenn ich die Trailer sehe, bekomme ich einen Avatar-Vibe. Der Film soll intelligenter sein, als die auf Atmosphäre und Eye Candy setzenden Trailer. Tja, sag niemals nie... Ich würde es mir verübeln, wenn ich meinem Bauchgefühl nicht nachgebe und diesen Film aus meiner Prognosenliste raushalte.
Wahrscheinlichkeit: Wenn der Film so smart ist, wie Olivia Wilde ihn propagandiert, und die Kinoeinnahmen Disneys Erwartungen übertrumpfen, dann macht euch darauf gefasst, dass euch bei Bekanntgabe der Oscar-Nominierungen die Kinnladen runterklappen...
Soviel kann ich jetzt zum Oscar-Rennen sagen. Wenn die nächsten großen Oscar-Hoffnungen gestartet sind, die Kampagnen laufen und die ersten Insiderstimmen kommen, die von den Reaktionen während der Sondervorführungen für Academy-Mitglieder berichten, dann kann man sich ein besseres Bild vom Oscar-Wettbewerb 2011 machen. Aber im Moment bin ich ganz glücklich mit meinen zehn (plus zwei) Kandidaten. Und, wen seht ihr unter den Nominierten für den besten Film?
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3 Kommentare:
Ah, endlich wieder Zeit für Oscarprognosen!
Eine ziemlich gute Prognose, zu weiten Teilen deckungsgleich mit der meinen. Von "Secretariat", muss ich zugeben, habe ich noch gar nichts gehört, sieht aber aus wie ein Film, um Lücken in den Darstellerkategorien zu füllen.
"Tron Legacy", was soll ich sagen. Den hab ich auch nicht auf meiner Liste, bin aber für alles offen und lass mich auch gerne überraschen. Zumal ich so einen Film gerne mal als Überraschenden Oscar-Contender sehen würde.
Als weiteren Kandidaten für den "Besten Film" könnte ich mir noch "Hereafter" vorstellen.
Ach ja: Bitte, lieber Filmgott, lass "Black Swan" richtig gut werden, auf dass Aronofsky mir Preisen überschüttet wird!
:)
Ich nominiere Scott Pilgrim vs. the World für ALLES! xD
"Beste Kurzdokumentation des Jahres"? - Kann er ruhig haben. :D
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