Seth und Richie staunen nicht schlecht. Sie dachten, sie befänden sich in einem klassischen Gangster-Movie. Aber dann überquerten sie die Grenze gen Süden...
Vor kurzem hatte ich das sündige Vergnügen, mir Robert Rodriguez' und Quentin Tarantinos Kultklassiker From Dusk Till Dawn in gepflegter Kinoatmosphöre anzuschauen. Selbstverständlich ungekürzt. Das so etwas trotz Indizierung das durchaus möglich ist, ist leider ein nicht weit verbreiteter Fakt. Für Kinoketten ist das auch selten eine rentable Aktion, da ein ganzer Saal für einen Film wegfällt, der nicht öffentlich beworben werden darf und an dessen Eingang strenge Alterskontrollen durchgeführt werden müssen. Gott sei Dank gibt es aber solche Einrichtungen wie das RWTH Filmstudio, das sich schon eher solch ungewöhnliche Programmierungen gönnen kann. Und es war wirklich ein unvergessliches Erlebnis, From Dusk Till Dawn (über dessen interessanten Zwist mit dem deutschen Jugendschutz hier einiges nachzulesen ist) in einem vollen Saal auf der großen Leinwand zu bewundern.
Zunächst einmal durfte ich feststellen, dass mir From Dusk Till Dawn tatsächlich mit jeder Sichtung kontinuierlich besser gefällt. Und auf einer stattlichen Leinwand absorbiert einen der Streifen natürlich direkt ein gutes Stück mehr, als auf dem kleineren Fernsehbildschirm. Außerdem war ich erstaunt, wie gut die Dolby-Effekte damals schon waren - und dass sie auf der leicht abgenutzten Kopie noch immer mehr als bloß passabel rüberkamen. Vor allem zog das Sehvergnügen in diesem speziellen Fall jedoch, natürlich, wieder einmal aufgrund der Massendynamik im Kino. Wenn Dutzende Leute über Witze lachen sind sie sofort ungleich komischer, wenn man nicht allein vor der Glotze innerlich die Helden anfeuert, sondern in einer großen Masse, dann sind sie sogleich viel cooler. Womit ich allerdings nicht rechnete, waren hörbar erstaunte und perplexe Zuschauerreaktionen.
"Was zur Hölle?! Was, was, Alter, was für'n Film ist das!" ertönte es ein paar Reihen hinter mir und in ähnlichem Wortlaut auch irgendwo aus einem Seitenflügel. Erst als Scherz abgetan, zeigte sich im Tonfall bald die Authentizität des Erstaunens. Sowas hatte ich nicht erwartet, ging ich doch davon aus, dass die Zielgruppe des Filmstudios den Film längst sah oder sich den Genrewechsel irgendwo spoilerte. Aber ich belächelte die Ahnungslosen nicht - ich freute mich für sie. Was für eine obskure Überraschung der extreme Genrewechsel in From Dusk Till Dawn doch für sie sein muss.
Ich habe ein wahres Faible für die Kunst des gelungenen "Genre Shifts", doch es ist eine Neigung, die schwer zu befriedigen ist. Denn Filme, die im Laufe ihrer Handlung die Stilform wechseln, sind schwer aufzuspüren, ohne sich die Überraschungen kaputt zu machen. Wenn man im Internet auf Informationssuche über solche Filme geht, sind Spoiler nahezu unvermeidlich. Aber wie will man solche Filme sonst entdecken? Es gibt im Handel ja kein eigenes "Genre Shift"-Regal. Und selbst wenn es das gäbe, so gälte dafür das gleiche, wie für Empfehlungen anderer Leute: Zumindest das Vorkommen eines abrupten Genrewechsels ist einem dann schon zuvor bekannt. Das mag noch ein wirklich verzeihliches Vorabwissen sein, trotzdem ist es irgendwie schade, dass man diese filmischen Spezialitäten unmöglich gezielt ansteuern kann, ohne sich beim Ansehen stets bewusst zu sein, dass einen ein Genrewechsel erwartet. Dadurch verändert sich auf Anhieb das Sehverhalten und man sucht nach Indizen für den Stilwechsel, wartet stets darauf, dass er sich in genau dieser Szene, die gerade läuft, vollzieht. Man will dem Film ein Schnippchen schlagen und im richtigen Moment triumphierend verkünden: "Wusst' ich's doch! Jetzt passiert's!"
Natürlich kann ich nachvollziehen, weshalb manche Leute solche abrupten stilistische Kehrtwenden nicht ausstehen können. Durch einen "Genre Shift" werden sämtliche Seherwartungen auf den Kopf gestellt, die Filmemacher zeigen dem Publikum förmlich den Stinkefinger. Es ist ein Bruch mit den Filmregeln und somit ungewohnt, was auf viele unangenehm wirkt. In manchen Fällen ist ein Genrewechsel auch allein schon deswegen ärgerlich, weil etwas (vermeintlich) besseres durch etwas (vermutlich) schlechteres ausgetauscht wird. Wenn ich mir etwa ein großartiges Musical im Disney-Stil anschauen würde, und nach vier fantastischen Songs mutiert es zu einem halbseidenen, staubtrockenen Western, dann käme ich mir auch betrogen vor, und hätte gern das Musical zurück. Oder umgekehrt, wenn der packende Western zum miesen Musical verkäme.
Vorausgesetzt aber, dass die einzelnen Teile des Films (annähernd) gleich gut sind, dann liebe ich solche "Genre Shifts" aus den Gründen, warum sie andere verachten. Als passionierter Filmgucker wird man halt über die Zeit hinweg sehr Neunmalklug, verinnerlicht die Gesetze eines Filmgenres, ist der Vermutung der Filmemacher, wie weit man als Zuschauer gerade denken mag, mindestens zwei Schritte voraus. Durch eine unerwartete Abkehr vom eingangs eingeschlagenen Genre schmeißen solche Filme jegliches Konzept, das ich mir als Zuschauer gemacht habe, über den Haufen und konfrontieren mich mit völlig neuen Situationen. Außerdem ist es, je nach Autor und Regisseur, auch eine Art postmodernes Zugeständnis an hektische Lebensstile. Wer keine Zeit hat, einen Sci-Fi-Film und ein 30er-Mafia-Epos als eigenständige Produktionen zu sehen, bekommt halt beide als hintereinandergeschnittenes Doppelpaket geliefert.
Vor allem sind solche Filme aber auch eine willkommene Erfrischung vom cineastischen Alltag. Genre-Mixe sind ja mittlerweile ebenfalls alltäglich geworden, aber eine Zeit lang einen reinrassigen Vertreter eines Genres zu sehen und ihn dann in ein anderes Genre abkehren zu sehen, das ist weiterhin etwas besonderes. Es muss ja nicht immer so ein krasser Wechsel wie in From Dusk Till Dawn sein. In kleinerem Rahmen wechselt ja auch WALL•E mindestens einmal sein Genre, wenn aus dem bittersüßen Stummfilm über einen Müllroboter mit Seele ein Sci-Fi-Abenteuer wird. Der Übergang ist sanfter als bei Tarantinos und Rodriguez' Kultfilm, wodurch die Geschichte von WALL•E einheitlicher wirkt und auch mehr im Vordergrund steht. From Dusk Till Dawn will dagegen stylischer und filmwissenschaftlich unerzogener sein. Beide erreichen ihr Ziel mit Bravour.
Und obwohl From Dusk Till Dawn nicht die gleichen Ansprüche an die Integrität seiner Handlung stellt wie WALL•E, so schafft auch er es, wie ein fertiger und durchdachter Film zu wirken, und nicht wie das Ergebnis einer Sauferei im Kopierwerk und dadurch entstandener, peinlicher Rollenverwechslungen. In der Mitte mutiert er zu einem vollkommen anderen Film... und irgendwie dann doch nicht. Wenn man sich an den Genrewechsel gewöhnt hat und mit etwas Abstand From Dusk Till Dawn intensiver betrachtet, so ergibt er eine runde, wenngleich vollkommen ungewöhnliche, Filmgewaltstudie.
Denn so sehr ich mich über "Genre Shifts" freue - damit ich sie richtig wertschätzen kann, sollten sich die Filmemacher schon mehr Mühe gemacht haben, als zwei Kurzfilme aneinanderzureihen und dann Stein auf Bein zu behaupten, es wäre ein einheitlicher Langfilm.
Weiterführende Artikel:
- From Dusk Till Dawn - Meine Kritik
- WALL•E - Meine Kritik
- Fan-o-logie: Die Natur von Serien- und Film-Fans
- Wieviel darf (oder soll) ein Film vom Zuschauer erwarten?
- Definition Kultfilm
- Miramax - Eine Retrospektive
- Markennamen in Fiktion - Eine Verteidigungsversuch
- You've Got a Freund in mir: Englische und deutsche Liedzeilen in der Toy Story-Saga
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen