Mittwoch Abend, 20 Uhr. Das Sinfonieorchester hat sich warm gespielt. Der Saal ist komplett ausverkauft. Die Gespräche flauen langsam ab. Im schwarzen Jacket wird es langsam warm. Noch wärmer das Gefühl im Bauch. Es ist ein richtig klassischer Kinoabend: Im Cinetower Alsdorf wird Charlie Chaplins Filmklassiker Moderne Zeiten aufgeführt und vor Ort mit Livemusik begleitet. Wahrlich beeindruckend, wie die Anwesenheit eines Sinfonieorchesters und zahlreicher weiterer galant gekleideter Kinobesucher die Atmosphäre vollkommen ändern kann. Ein Hauch von Kultur lag in der Luft, ebenso wie eine Haltung der besser behüteten von früher. Zumindest im Ansatz konnte man nachfühlen, wie es einst gewesen sein muss, sich einen Besuch in einem der besonders großen Kinos mit Orchester statt Klimperpiano leisten zu können.
Der Kinobesuch von Moderne Zeiten war wirklich ein Highlight, aber das Drumherum wäre natürlich niemals aufgegangen, wenn Moderne Zeiten sich seinen Status als Meilenstein der Filmgeschichte nicht redlich verdient hätte. Persönlich ist mir Charlie Chaplin eher unsympatisch, was man über ihn als Privatmenschen liest ist stellenweise sehr unschön und auch seine sehr populäre Figur des Tramps kann ich nur mit einer leichten Distanz genießen. Der Tramp ist ja sozusagen eine menschliche Vermischung von Micky Maus und Donald Duck, ein Jedermannstypus, dem andauernd irgendein Unglück auflauert, nur dass mir in dieser Gleichung der Micky-Maus-Anteil etwas zu hoch ist. Deshalb kann ich bei den Missgeschicken des Tramps nur stellenweise mitleiden, ich zucke zusammen, wenn sich ihm wieder einmal ein großes Missgeschich widerfährt, jedoch bin ich bei seinen froheren Momenten nicht ganz so empathisch. Aber dennoch sehe ich in Charlie Chaplin eine der bedeutsamsten Größen der Filmgeschichte, denn er war ein begnadeter Filmschaffender, der ein geniales Werk hinterließ. Chaplins Schaffen kann mich als Filmbegeisterten trotz der Distanz, die ich zu ihm als Menschen und seiner Kunstfigur des Tramps verspüre ungebrochen begeistern.
Chaplins Genie zeigt sich ja bereits darin, dass er seinen unvergleichlichen Erfolg feierte, als der Tonfilm bereits seinen Siegeszug in Hollywood begann. Lange trotze Chaplin der Konkurrenz der "Talkies", doch 1934 schien Chaplin nachzugeben. Er schrieb Moderne Zeiten als seinen ersten Tonfilm, verfasste Dialoge und experimentierte mit dem Einsatz von Toneffekten. Diese Idee verwarf Chaplin allerdings recht zeitig und beschloss, der Bedrohung des Tonfilms zu trotzen und die Kunstform der Phantomime mit diesem Film zu verteidigen. Somit wurde Moderne Zeiten zu einem Übergang zwischen Ton- und Stummfilm: Der Ton wird in Moderne Zeiten ausschließlich zur Dehumanisierung verwendet. Wir hören maschinelle Geräusche und die über einen Bildschirm übertragenen Befehle des Fabrikchefs, ansonsten bleibt der Film stumm und verwendet Sprechtafeln. Und in einerletzten Auflehnung gegenüber des Dialogfilms soll Chaplins Tramp in einem Etablissement ein Lied vortragen. Da er sich allerdings seinen Text nicht merken kann und den Spickzettel verliert, beachtet er den herzlichen Ratschlag "Never mind the words!" und singt ein verrücktes Lied in einer albernen Fantasiesprache, dessen Inhalt aufgrund der deutlichen Körpersprache Chaplins trotzdem ganz und gar verständlich ist.
Primär ist Moderne Zeiten allerdings keine Abrechnung mit dem Tonfilm, sondern mit der Industrialisierung und ihren Folgen. Trotz der wundervollen, herzerwärmenden Inszenierung von Moderne Zeiten und Chaplins großartigem Timing (sowohl als Schauspieler und Regisseur, als auch sein Ohr am Puls der Zeit habender Autor) sollte man sich jedoch nicht vom Ruhm des Films blenden lassen und ihn als eine durchwegs beißende und pointierte Fabrikarbeitssatire sehen. Die als bitterer Fingerzeit auf die Unmenschlichkeit der damaligen Arbeitsbedingungen und die maschinelle Gleichschaltung der Menschen relevanten Szenen beschränken sich nur auf einen kleinen Teil der Laufzeit von Moderne Zeiten, darunter auch die wohl bekanntesten des ganzen Films und einige wahrlich ikonische Bilder, die für sich selbst schon Bände sprechen (wie das obige). Zu weiten Teilen ist Moderne Zeiten "nur" eine rührend-komische Geschichte eines kleinen Mannes aus der unteren Arbeitsschicht, der auf der Suche nach einem stabilen Beruf und somit auch ein gefestigtes Leben gegen zahlreiche Widrigkeiten kämpfen muss. Das ist keinesfalls schlecht, insbesondere nicht wenn es ohne Worte so gelungen erzählt wird, bloß nicht ganz so anspruchsvoll, wie Moderne Zeiten von manchen Filmhistorikern gefeiert wird.
Dafür kann man bezüglich der Ausstattung von Moderne Zeiten kaum genug Lob finden. Die stattlichen Fabrikbauten, die detaillierten Ausstellungsräume des Einkaufsemporiums oder auch die liebevoll gestaltete Dreckshütte, in die Chaplin und seine Weggefährtin zeitweise wohnen, sind beeindruckend und zeugen von Chaplins Perfektionismus, der auch für heftige Streitereien bezüglich der pompösen Musikpartitur für den Film sorgte. Diese enthält einige denkwürdige Musikthemen und überzeugt auch zwischen ihnen mit pointierten Kommentaren des Leinwandgeschehens und einem wohlgewählten Hauch Dramatik.
Chaplin und seine bezaubernde Leinwandpartnerin Paulette Goddard ergänzen sich sehr gut. Goddard als stehlendes Kind der Straße, das aufgrund seiner größeren Geschicktheit besser darin ist,sich ein festes Leben aufzubauen, als der arbeitende Tramp, hat eine die Leinwand aufhellende Ausstrahlung und verblasst in den komödiantischen Momenten nicht neben dem brillanten Chaplin. Die dramatischeren Züge von Moderne Zeiten beherrscht er hingegen um einiges besser als Goddard.
Wenn man mit den Augen eines heutigen Kinogängers an Moderne Zeiten herangeht, fallen auch allerhand Elemente auf, die heutzutage im Kino nicht so schnell zu erwarten wären. Im Film ist komödiantischer Drogenmissbrauch zu sehen, der Tramp verführt Minderjährige zum Rauchen und die Gestik Chaplins während seines Fantasieliedes würde ein modernes Publikum wohl zielstrebig zur Deutung führen, seine Figur ahme Klischee-Homosexuelle nach (weil abgeknickte Hände ja nichts anderes bedeuten können). Der dramaturgische Aufbau kommt dem heutigen Geschmack auch nicht wirklich entgegen. Moderne Zeiten hangelt sich inhaltlich sehr episodenhaft voran und einen den gesamten Film überdachenden Spannungsbogen gibt es auch nicht. Und das ambivalente Ende ist für sich betrachtet zwar melancholisch-süß, wirkt neben dem ambitionierteren und strigenteren Beginn aber etwas flach. Zumindest die ersten zwei Kritikpunkte sind jedoch keine Makel des Films, sondern lediglich Zeichen einer gewandelten Erzählkultur im Kino. Des weiteren reizen mich als Disneyfan natürlich noch kleinere Parallelen zu zwei späteren Donald-Cartoons, nämlich Modern Inventions und Der Fuehrer's Face, die beide offensichtlich Inspiration in unterschiedlichen Teilen der Fabriksequenzen fanden.
Die "Konzert ohne Frack"-Aufführung von Moderne Zeiten hat mir große Lust auf weitere Stummfilm-Kinoabende in ansprechendem sowie ihnen entsprechendem Rahmen gemacht. Obwohl sie visuell völlig anders als moderne Filme sind, spürt man den großen Meisterwerken trotzdem an, dass sie für die Leinwand geschaffen sind, und nicht als Programmlückenbüßer in den dritten Fernsehsendern. Und das Saalpublikum der ausverkauften Vorstellung stimmt mir den hörbaren Reaktionen nach zu urteilen ohne Widerrede zu.
1 Kommentare:
*Daumen hoch* :)
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