Montag, 10. März 2008

Sag an... Kopf oder Zahl?

ACHTUNG! Dieser Beitrag enthält zahlreiche SPOILER über No Country for Old Men!



No Country for Old Men ist ein Film, über den man nur all zu schnell zu viel erfahren kann. Auch wenn er nur wenige Wendungen und Überraschungen enthält, so wirkt er einfach viel intensiver wenn man nur das nötigste über ihn weiß. Deshalb verzichtete ich in meiner Rezension komplett auf Spoiler. Deshalb geriet diese auch so kurz.

In diesem Beitrag werde ich dafür umso mehr ins Detail gehen. Wer sich also nicht den Spaß verderben möchte, dem sie geraten, diesen Artikel nicht zu lesen. Ich wiederhole: Lest dies nicht, bevor ihr No Country for Old Men gesehen habt! Und sagt nicht, ich hätte euch nicht gewanrt! Da der gesamte Artikel Spoiler enthält, werde ich ihn nämlich nicht komplett verdunkeln (wie die Spoiler in meinen Reviews)! Also, wer den Film nicht gesehen hat... scrollt ihn bitte komplett weg!








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Okay, von nun an gibt es keine Rückkehr ins spoilerfreie Gebiet! Ich habe euch gewarnt!



Wer die Coens (The Big Lebowski, Fargo, Miller's Crossing,...) kennt, weiß, dass diese ein leichte Filmstudenten-Attitüde haben. Sie analysieren das Filmgenre, in dem sie ihre Projekte platzieren lassen wollen. Lernen die Konventionen, wissen wie man eine solche Geschichte effektiv erzählt, wie Geschichten in dieser Filmgattung bislang erfolgreich vermittelt wurden. Und dann kämmen sie ihre eigene Geschichte gegen den Strich. Nur wer die Regeln kennt, kann sie geschickt brechen.

Solche Experimente können eitel, selbstverliebt, ja sogar arrogant wirken. Den Zuschauer abschrecken, ihm den Zugang zur Geschichte verhindern und zum Betrachter eines abstrakten Werkes degradieren. Getreu dem Motto: "Schau es dir verwundert an, und streng gefälligst dein Hirn an. Hinweise gibt es allerdings gar keine."
So sehr ich es liebe, wenn die Filmemacher mir zutrauen selber 1 und 3 zusammenzuzählen, so sehr hasse ich es, wenn die Filmemacher nur sagen "Das Ergebnis ist ein Differentialbruch.", und ich selber dahinter kommen muss, was genau das Ergebnis ist und auf welchem Wege dieses Ergebnis erzielt wurde. So konnte ich mich auch nach mehrfachem Ansehen einfach nicht mit Mullholland Drive von David Lynch anfreunden. Filme dürfen gerne skurril und anspruchsvoll sein, aber so lange sie dabei noch eine Geschichte erzählen wollen, darf das Experiment nicht die Story übertünchen. Ich finde, dass man eher das Experiment mit der Geschichte verknüpfen sollte...

Doch die Coens sind glücklicherweise nicht der Post-90er-Jahre-David-Lynch. Sie schossen nicht blind auf die typische Filmstruktur und lieferten ab, was übrig blieb. Viel mehr rissen sie hier und dort einen Stützpfeiler ein, dreschten auf die Fassade ein und verschoben einige Regeln. Die Geschichte ist jedoch immer noch da - nun jedoch in einem völlig neuen Gewand und nicht in einer Form, wie wir sie schon hundert Mal gesehen haben. Die Story wirkt dank den Veränderungen nicht nur neu, nein, viel mehr gewinnt sie sogar durch die unkonventionellen Überlegungen. So lobe ich es mir.

Einer der gerissensten Tricks der Coens ist in diesem Film, dass sie dem Zuschauer nicht alles zeigen - vieles kann man sich anhand der Hinweise ausmalen, anderes bleibt dagegen im Unklaren. Viele Informationen, die zwar in einem normalen Film vorkommen würden, aber keine direkte Verbindung zum Hauptplot haben, werden einfach weggelassen. Auf der anderen Seite werden einige Nebensächlichkeiten prominent im Film gezeigt. Wie etwa das langsame Hinsetzen Chigurhs mit einer Flasche voll Milch, nachdem er in Llewelyns Wohnwagen einbrach.

Solche vermeintlich grundlegenden Informationen wie das Schicksal mehrerer Figuren bleibt völlig aus. Als Chigurh so eben den Millionen schweren Boss umlegt, fragt sich jemand anderes im Raum (der sich als "Niemand... Rechnungswesen!" vorstellt), ob er nun auch sterben wird. Der Zuschauer bekommt diese Information nie geliefert. Und auch das Ende von Llewelyns Frau wird im Gegensatz zu den harten On-Screen-Toden zu Beginn des Films einfach mal so ausgelassen. Der aufmerksame Zuschauer mag an Chigurhs Verhalten ablesen können, was mit ihr geschah, doch eine Frage der Interpretation bleibt es weiterhin. So offensichtlich ich den Hinweis auf ihren Tod auch finde.
Ein letztes, prominentes Beispiel, sei noch gegeben: Der Verbleib des Geldes. In jedem Hollywoodfilm indem es um einen Koffer voller Geld oder vergleichbares geht, wird auch das Schicksal des Gegenstandes beleuchtet. Doch nicht hier. Es geht um die Figuren. Nicht um das Geld. Und so verschwindet es irgendwann aus dem Film und es bleibt jedem selbst überlassen, ob er irgendwelche Aussagen als Hinweise deutet oder nicht.

So wird der Film realistischer, lebensnäher. Im wahren Leben bekommt man auch niemals sämtliche Informationen geliefert, egal wie interessant oder wichtig sie sein mögen. Diese Vorgehensweise stützt den Film auf gesunde Weise. Durch die so gewonnene Authentizität können die Coens ihre Figuren stärker verzerren, einige Szenen abgedrehter und skurriler gestalten, ohne die beklemmende Atmosphäre des düsteren Realismus zu gefährden. Ähnlich gingen auch Ted Elliott und Terry Rossio vor, als sie die Drehbücher für Teil 2 und Teil 3 der Pirates of the Caribbean-Reihe verfassten.


Weitere Auslassungen stärken nicht bloß die Realitätsnähe, sondern auch die Aura der Figuren. Wir wissen nicht, wieso Ed Tom Bell den Anschluss an den Puls der Zeit verlor und wir wissen nicht, wann genau er zwischen seiner vorletzten und letzten Szene in den Ruhestand ging. Dies mag die Figur auf der einen Seite simpler machen, verstärkt auf der anderen Seite jedoch auch seine Ausstrahlung. Er ist ein alter, nicht sonderlich erfolgreicher, aber kluger Mann. Er könnte fast jeder sein. Dies gibt ihm Charme, lässt ihn eher als Parabel wirken, als wenn er eine detaillierte Biografie hätte.

Besonders wichtig ist die Auslassung an Informationen jedoch bei Anton Chigurh. Wir wissen im Grunde genommen nur das über ihn, was wir im Film auch gezeigt bekommen sowie ein paar kleinere Informationen, die eine weitere Figur (Carson Wells) über ihn gibt. Wir kennen weder seine Motive, noch seine frühere Geschichte. Schnell könnte es platt wirken, zumal der heutige Zuschauer immer mehr an ausgefeilte Hintergrundgeschichten und detaillierte Psychogramme gewöhnt ist. Eine Entwicklung im Kino, die sogar lobenswert ist, da sie den Bösewichtern einen intellektuellen Anspruch verleiht, den es zu Zeiten märchenhafter Grenzenzeichnung zwischen Gut und Böse nicht gegeben hat.

Doch es gibt stets auch Ausnahmen. No Country for Old Men ist eine dieser Ausnahmen. Chigurh ist das personifizierte, unaufhaltsame Böse in seiner unheimlichen Gestalt des Unbekannten. Diese Figur ist sozusagen gottgegeben: Er wurde nicht zu dem was er ist, er ist einfach plötzlich da und verschwindet irgendwann. Sicher ist man vor ihm jedoch nicht. Denn konsequent wie der Film nunmal ist kommt Chigurh mit einigen Blessuren, aber vom Gesetz ungeschoren, davon. Das Böse lebt weiter.
Ein Happy End gibt es nicht.

In No Country for Old Men findet sich, auch im Hinblick auf dieses Ende, eine filmanalystische Metaebene:

Der Film kokettiert nämlich auch mit dem Faktor "Zufall in Filmen", treibt ihn auf die Spitze, verdreht und verzerrt ihn, pflückt ihn so völlig auseinander.
Das fängt schon mit Chigurhs Münzenwerfen an. Ob er Opfer, die nicht zu seiner Mission gehören, tötet oder nicht bleibt völlig dem Zufall oder dem Schicksal überlassen. Aber auch die Art und Weise, wie Llewelyn in die Geschichte verstrickt wird ist reiner Zufall. Er stolpert in ein bereits vollendetes Drogenmafia-Szenario, und steckt mal eben das Geld ein. Als er zum Tatort zurückkehrt, gabelt ihn die Drogenmafia auf, die rein zufällig in genau diesem Moment ebenfalls eintrudelt.
Hier überkreuzt der Zufallsfaktor einen weiteren Weg, mit dem die Coens die zahlreichen Filme mit einem Objekt der Begierde, das den Film antreibt, demontieren. Der offensichtliche MacGuffin, der sonst nichts zur Geschichte beiträgt als sie in Gang zu bringen, wird von einem Zuspätkommer gefunden. Das stetige knappe Versäumen der für solche Filme eigentlich interessanten Geschehnisse manifestiert sich in Tommy Lee Jones Sheriff Charakter, der den Täter immer um einen Hauch verpasst, aber auch hier entgeht dem Zuschauer (und den handelnden Figuren) das aufgrund des Schauwerts eigentlich interessante Shootout zwischen den Gangstern. Den Gipfel erreichen die Coens aber in einer viel späteren Szene, die auch den Kreis zu den eingangs erwähnten Auslassungen (in Ergänzung zu den nun besprochenen Versäumnissen) schließt: Wir versäumen Llewelyns Tod. Offscreen stirbt er durch die Hand einiger wilder mexikanischer Gangster, die mit den rund 90 vorhergegangenen Minuten des Films wenig zu tun hatten, da wir uns mehr auf die drei Hauptfiguren konzentrierten. Auch der Zufall spielt wieder eine Rolle. Wäre er auf das Angebot der im Pool schwimmenden Schönheit eingegangen und hätte sie auf ihr Zimmer geführt, würden beide höchst wahrscheinlich das Ende des Films überleben. Aber das Schicksal verlief anders.

Viele Filme leben von konstruierten Fehlern, doch die Coens ziehen dies bewusst und konsequent durch, demontieren mit dem Anti-Klimax des Films, dem Auslassen traditionell wichtiger Szenen und vor allem dem Umstand, dass die drei Hauptfiguren zu keinem Zeitpunkt gleichzeitig im Bild sind (und sich kein filmgattungskonformes Showdown liefern) diese Filmkonventionen. Und das ohne dem Film seine Eigenständigkeit zu nehmen. Er funktioniert nicht nur als Filmstudie oder Experimentalkino, sondern weiß auch von sich selbst aus zu überzeugen.

Und das ist die wahre Glanzleistung der Coens - mit der sie das Oscar-Rennen letztlich wohl auch für sich entscheiden konnten.

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