Ein letztes Mal durchatmen, und dann haben wir's schon wieder hinter uns! Und dieses Mal habe ich es tatsächlich geschafft, meine Jahrescharts noch vor den Oscars abzuschließen. Das ist ja auch eher selten. Man hat aber auch immer viel zu tun, ihr kennt es ... Was ihr auch kennt: Die Notwendigkeit, euch einmal kurz auf die Folter zu spannen und mit ein paar Ehrennennungen die Top Ten noch ein wenig hinauszuzögern. Und weil die Academy Awards vor der Tür stehen, habe ich mir vier Filme aufgehoben, die mal mehr, mal minder im Oscar-Diskurs mitgemischt haben. Da hätten wir einerseits das Drogensucht-Familiendrama Beautiful Boy, das herzzerreißend gut gespielt ist. Dann wäre da das Historiendrama Maria Stuart, Königin von Schottland, das mir mit seiner Ästhetik, seinem beiläufigen Zurechtrücken gemeinläufiger Irrtümer über die behandelte Epoche und seinen dramatischen Monologen doch ein gutes Stück mehr zugesagt hat als den meisten - der Film ging ja doch eher unter. Ebenso wie Bernadette, Richard Linklaters eloquente Komödie, die ein wenig anmutet wie der Schnelldurchlauf durch eine intellektuelle Sitcom. Und dann hat mich noch das Politdrama Der Spitzenkandidat sehr überzeugt, in dem Jason Reitman mit Hugh Jackman quasi die Wurzel des üblen US-Politjournalismus beleuchtet.
Aber an diese zehn Filme reichen meine Ehrennennungen partout nicht heran. Das hier sind sie, die zehn Filme 2019, für dich ich mit größter Begeisterung in die Bresche springe, jene, die mein Filmherz am höchsten schlagen lassen!
Platz 10: Spider-Man: Far From Home (Regie: Jon Watts)
Monate, bevor Sony Pictures mit Jumanji: The Next Level eine Popcorn-Actionkomödie herausgebracht hat, die nicht nur temporeich, witzig und überaus gefällig ist, sondern sich unter ihrer äußerst vergnüglichen Oberfläche auch als erstaunlich clever entpuppt, meisterte ein anderer Film diesen Drahtseilakt: Spider-Man: Far From Home führt mit Energie und Drive vor, wie man Inhalt und Form miteinander verschmilzt und sich dabei dennoch das vergnügliche Gewand einer Teenie-Superheldenkomödie überstreift. Die Kollaboration zwischen den Marvel Studios und Sony handelt von einem Jugendlichen, der das Gewicht einer Welt auf seinen Schultern spürt, die sich im Umbruch befindet, der aber mit aller Macht viel lieber einfach nur Ruhe und Zerstreuung haben möchte. Und wie ist Jon Watts' Film gehalten? Wie eine Teenager-Roadtrip-Komödie inklusive greller Archetypen: Amerikanische Junggesellen-Touristen wollen in Europa neue Erfahrungen sammeln, es gibt peinlich-alberne Erwachen mit Fußball-Hooligans und die fehlinformierten, mit der Überwachung ihrer Klasse überforderten Lehrer dürfen auch nicht fehlen.
Spider-Man: Far From Home imitiert, was das filmische Pendant zu Peter Parkers Wünschen wäre, doch wer auch nur einen Hauch des filmischen Scharfblicks hat, muss erkennen, dass sich dahinter mehr verbirgt. Spider-Man: Far From Home zieht nämlich mit genialer Konsequenz seinen Themenkomplex Verdrängung, Verleugnung und Vortäuschung durch. Stilistisch und tonal werden die Konsequenzen der vergangenen paar Marvel-Filme zwecks Teenie-Späße verdrängt (bis die Masche in sich zusammenbricht). Peter selbst muss lernen, seine Verantwortungen nicht zu verleugnen, doch entgegen der Spaßigkeit des Films gibt es dahingehend keine einfachen Antworten. Und dann spiegelt sich der Themenkomplex auch noch in vermeintlich irrelevanten Gagszenen sowie in der Gestaltung der Gegenseite wider: So viele Szenen und Sätze in Spider-Man: Far From Home laufen letztlich auf Verdrängung, Verleugnung und Vortäuschung hinaus und bei aller Stringenz, mit der dieser Film das durchzieht, findet er trotzdem Nuancen. Statt einfach nur auf Fake News zu haken und das Ignorieren einer ernsten Lage anzuklagen, skizziert Spider-Man: Far From Home diverse Zwischentöne. Figuren sagen nicht nur schädliche Lügen und befreiende Wahrheiten, sondern auch schädliche Wahrheiten und notwendige Lügen. Wahre Informationsbröckchen können in diesem Film zuweilen schwereren Schaden anrichten als frei erfundene Schwindeleien, doch auch die sind ein elementarer Bestandteil. Auch die Musik ist eine Wucht, etwa, wenn Komponist Michael Giacchino einer Figur ein Stück auf den Leib schreibt, dass wie ein Riff auf das Avengers-Thema beginnt und dann letztlich in seine Retro-Billig-Synthie-Einzelteile zerfällt (und die sich an einer Stelle zu einem klassischen US-News-Intro aufschwingen).
Hinzu kommen ein den Punkt treffender Tom Holland, Jake Gyllenhaal in genüsslichster Laune und ein eklektischer Cast an Nebenfiguren. Natürlich hat Spider-Man: Far From Home nicht die komplexesten und weltveränderndsten Antworten parat, doch für seine Stringenz und Konsequenz sowie dafür, wie er seine durchdachte Verschränkung von Form und Inhalt trotzdem mit Leichtigkeit präsentiert, hat er vollsten Respekt verdient. Wobei es natürlich schade ist, dass der Film so leichtfüßig ist, dass seine smarten Elemente offenbar an manchen Miesepetern glatt vorbeigerauscht sind. Naja. Deren Verlust.
Platz 9: Porträt einer jungen Frau in Flammen (Regie: Céline Sciamma)
Wo wir gerade beim Thema "Form trifft Inhalt" sind: Mädchenbande-Regisseurin Céline Sciamma erzählt in ihrem bildschönen, berückend-ruhig erzählten Drama Porträt einer jungen Frau in Flammen von einer jungen Malerin, die den Auftrag erhält, heimlich das Porträt einer jungen Adeligen zu malen. Die wehrt sich nämlich gegen jeden Versuch, sie zu porträtieren. Doch ihrer Mutter ist das Porträt von Bedeutung, da es zur Ehevermittlung verwendet werden soll. So beginnt einerseits eine Geschichte über die Dichtomie über aufgezwungene Bildnisse und Selbstbildnisse, aber auch die Differenz zwischen Auftragsarbeiten und passionierter Kunst spielt in diesem zärtlichen, subtilen und sinnlichen Drama eine große Rolle.
Noémie Merlant und Adèle Haenel sind betörend gut als zwei Frauen, zwischen denen schon früh eine Faszination und Anziehung besteht, sich aber nur sehr vorsichtig annähern und einander öffnen. Von Claire Mathon (Mein ein, mein alles) in natürlich beleuchteten Bildern eingefangen, die oftmals selber wie Gemälde aussehen, und nahezu frei von Musik (wodurch die wenigen Einsätze umso berückender sind), ist Porträt einer jungen Frau in Flammen auch eine ästhetische Wucht, und Céline Sciamma eingeflochtene Elemente aus Literatur und Kunsthistorie sind von einer bittersüßen Poesie. Einfach ein wundervoller Film.
Platz 8: Hustlers (Regie: Lorene Scafaria)
Wenn man mich fragt, der mit Abstand beste Gangsterfilm des Jahres: Hustlers ist ein aussagekräftiger Kommentar auf die Folgen der Weltwirtschaftskrise der 2000er-Jahre, ein kerniger und dennoch von den üblichen, forcierten Kabbeleien befreiter Film über Frauenfreundschaften irgendwo zwischen Nutz-Freundschaft und emotionalem Auffangnetz sowie einer der sehr, sehr raren Filme abseits von Magic Mike XXL, der das Gewerbe des Erotiktanzes ernst nimmt, statt es entweder anzugeifern, lächerlich zu machen oder brutal zu dramatisieren. Inszeniert und geschrieben von Auf der Suche nach einem Freund fürs Ende der Welt-Regisseurin Lorene Scafaria, blickt Hustlers aus besonnenen weiblichen Perspektiven auf Stripperinnen in einem angesagten New Yorker Club, in dem es sich vor allem Wall-Street-Macker gut gehen lassen. Als die Betrügereien dieser Bonzen die ganze Weltwirtschaft aus der Bahn geraten lassen, planen die Ladys (aus Eigennutz, aber mit einer Robin-Hood-esken "Wir nehmen jenen, die nicht haben sollten"-Attitüde) einen Rache-Coup, um wieder an Geld zu kommen.
Scafarias minutiös durchdachte Regieführung lenkt unsere Wahrnehmung der Figuren (so wird Jennifer Lopez' Powerfrau von einer Nebenfigur aus den bewundernden Augen von Constance Wus Protagonistin betrachtet etabliert), distanziert uns durch akustische Spielereien von der Geschichte, sobald es nötig ist, lässt uns kritisch beäugend und dennoch fasziniert mitjubeln und gibt den Frauen Würde und Eigenständigkeit, die im Gangsterkino sonst nur das schmückende Beiwerk sind. Und dann macht Hustlers auch noch unverschämt viel Spaß, ist spannend und hat ein Herz für die Bindungen zwischen den zentralen Figuren. Starke Sache.
Platz 7: Rocketman (Regie: Dexter Fletcher)
Taron Egerton verkörpert Elton John mit immenser Spielfreude und einer beeindruckenden Glaubwürdigkeit in abrupten Stimmungswechseln und die Kostümarbeit sowie das Produktionsdesign sind einfach herrlich. Besonders faszinierend ist aber, mit welch scheinbarer Leichtigkeit Hits aus Elton Johns Schaffen in die Nacherzählung seines Lebens gewoben werden: Wüsste ich's nicht besser, ich würde es sofort glauben, dass die Lieder in Rocketman allesamt für den Film geschrieben wurden, so sehr sprechen die Texte und Melodien den Figuren aus dem Herzen und nie zuvor habe ich ein Jukebox-Musical erlebt, in dem nicht mehrmals mit dem Brecheisen Elemente aus kommenden Liedern etabliert (und gegebenenfalls sofort wieder aufgegeben) werden. Die beruflichen wie privaten Höhen und Tiefen Elton Johns werden hier mit Verve und Symbolkraft nachgezeichnet. Die Sequenz rund um den Song Rocketman gehört für mich zu den unbestrittenen Höhepunkten des Jahres und diverse Kleinigkeiten lassen mich bei jedem Anschauen aufs Neue strahlen, weil sie von der Passion zeugen, mit der dieser Film entstanden ist und bis in die kleinste Dialogzeile hinein ausgeklügelt wurde. Jamie Bells unauffällig-unterstützende Leistung in der Rolle von Elton Johns Texter Bernie Taupin wird viel zu selten positiv hervorgehoben, die Songszenen sind kreativ inszeniert und lebhaft inszeniert und die Arrangements der Pophits sind griffig auf die Filmdramaturgie hingebogen.
Dexter Fletcher hat hier eine sehr rührende, ernste und dramatische Geschichte mit viel Dynamik und Showmanship gedreht - oder aber ein sehr glitzerndes, energievolles Musical mit viel Herz und Seele versehen. Eine Schande, dass Rocketman nicht noch viel mehr Aufmerksamkeit an den Kinokassen und bei den diversen Awards erhalten hat. Aber ich bin mir sicher: Er wird noch lange Zeit neue Fans für sich entdecken.
Platz 6: Booksmart (Regie: Olivia Wilde)
Wo wir gerade bei Filmen sind, die deutlich mehr Erfolg verdient gehabt hätten: Olivia Wildes Regiedebüt Booksmart hinterließ trotz hervorragender Kritiken an den US-Kassen kaum Eindruck und ging im Rest der Welt völlig unter. Welch ein Jammer, denn diese Teenie-Partykomödie ist ein riesiges Vergnügen. Die beiden Hauptfiguren, aufgeweckte, aber auch etwas von sich selbst eingenommene Spitzenschülerinnen und Partymuffel, sind überaus amüsant und liebenswert. Die Chemie zwischen den Darstellerinnen Kaitlyn Dever und Beanie Feldstein ist großartig, das Skript voller eloquenter, beiläufig präsentierter Bonmots und die Nebenfiguren sind dezent bis stark überspitzte, schlussendlich aber sehr wohl mehrdimensionale Vertreter heutiger Jugendgruppen. Die Jugendsprache in Booksmart ist authentisch, aber überhaupt nicht aufgesetzt, Billie Lourd ist genial als rauere Cousine im Geiste der High School Musical-Diva Sharpay und obendrauf ist Booksmart ein wundervolles Beispiel dafür, wie inklusivere Geschichten plattgetretene Genres aufmöbeln können.
Platz 5: The Favourite – Intrigen und Irrsinn (Regie: Giorgos Lanthimos)
Girls Club trifft Historienkino trifft Giorgos Lanthimos, Meister der staubtrocken vermittelten Süffisanz: Fertig ist The Favourite, ein Kostümdrama, in dem die Oneliner fliegen wie die Schießübungstauben, und Emma Stone, Rachel Weisz, Olivia Colman und Nicholas Hoult einfach bombig spielen, die Kostüme prunkvoll und die Kamerawinkel seltsam sind. Hummer werden gejagt, Enten phallisch gestreichelt und Kaninchen müssen als tragisches Symbol herhalten. Ein ebenso gut aussehender wie kluger und witziger Film, der Lanthimos gleichermaßen aus seiner stilistischen Komfortzone rausholt und sein Wesen als Regisseur zur Schau stellt.
Platz 4: Dave Made a Maze (Regie: Bill Watterson)
Der Community-Film ist uns allen bisher verwehrt geblieben, doch Bill Watterson hat mit Dave Made a Maze immerhin schon einen Film abgeliefert, der sich anfühlt wie eine abendfüllende Episode der genialen, höchst einfallsreichen Comedyserie: In Dave Made a Maze baut ein Kreativkopf namens Dave ein gigantisches Pappkarton-Labyrinth. Doch von innen ist es größer als von außen und er hat sich verlaufen ... Mit extrem charmanten, kunstvollen Produktionsdesign im Bastellook (Michel Gondry würde hier ins Schwärmen geraten) und mit herrlich-albernen Nebenfiguren ausgestattet, ist diese Fantasy-Komödie einerseits einfach ein genial-verschrobener, spaßiger Film der ganz anderen Art. Doch obendrein entführt uns Dave Made a Maze auf metaphorische Weise in den Verstand eines Kreativen, der sich in Ideen verrennt, die er nie zu Ende bringt, und dem es an Selbstvertrauen mangelt.
Platz 3: Once Upon a Time in Hollywood (Regie: Quentin Tarantino)
Wenn man mich fragt: Quentin Tarantinos womöglich vorletzte Regiearbeit ist zugleich auch eine seiner besten. Once Upon a Time in Hollywood verkauft sich an der Oberfläche als lockerer, stimmungsvoller Hangout-Movie. Ein abgehalfterter Fernsehstar und sein unterbeschäftigter Stuntman laden uns ein, mit ihnen Zeit zu verbringen. Wir hören ihnen bei ihren gewitzten Gesprächen zu, wir schauen ihnen bei ihrer Arbeit über die Schulter und verfolgen ihre Nachbarin Sharon Tate, wenn sie auf Partys oder ins Kino geht. All das in einem mit nostalgischer Liebe zum Detail rekreierten Los Angeles des Jahres 1969 und bereichert mit urkomischen, sketchhaften (aber narrativ sehr wohl versiert in das Gesamtwerk verwobenen) Momenten wie einem Ausraster im Wohnwagen oder einer tagträumerischen Erinnerung.
Doch Once Upon a Time in Hollywood ist mehr als nur ein Abhängfilm. Es ist eine liebevolle Verneigung vor dem Wendepunkt-Jahr, das Tarantino zum Filmliebhaber gemacht hat, die sich trotzdem mehrmals kritisch mit Verklärung auseinandersetzt. Und es ist die Mär, wie "Das Schöne von früher" und Progression in Amerika Hand in Hand hätten gehen können. Begnadet gespielt von Leonardo DiCaprio, Margot Robbie und Brad Pitt und mit einem frivol-launigen Finale sowie einem schmissigen Soundtrack versehen, ist Once Upon a Time in Hollywood Stimmung und Dialoggenuss in wundervoll-hoher Dosis.
Platz 2: Vivarium (Regie: Lorcan Finnegan)
Ab und zu taucht ein Film auf, den man sich aus Neugier, mit wenig Vorwissen und soliden Erwartungen anschaut und der einen dann damit vollkommen umhaut, dass er sich so anfühlt, als wäre er speziell für einen selber geschaffen worden. Vivarium ist für mich einer dieser Filme. Lorcan Finnegans surreal durchsetzter Mystery-Thriller handelt vom jungen Pärchen Tom und Gemma (spitze: Jesse Eisenberg und Imogen Poots), das sich ein Reihenhaus anschaut. Plötzlich ist der Makler verschwunden, und das ist noch das harmloseste und am wenigsten rätselhafte, das ihnen daraufhin passiert ... Ich habe Vivarium auf dem Fantasy Filmfest 2019 gesehen und ich will für den Fall, dass er doch noch eine weitere Auswertung in Deutschland erhält, noch nicht zu viel verraten. Aber es ist so, als hätte Vivarium tief in meinen Filmgeschmack geblickt und gesagt: "Ah, okay, du willst und brauchst also diesen Film." Ich liebe das reduzierte, bewusst-künstliche Design des Films, ich feiere es, wie Lorcan Finnegan seine thematischen und inhaltlichen Elemente vorbereitet (so viel sei gesagt: Poots beginnt den Film mit dem gesellschaftlich angeseheneren Beruf, doch dann ...) und mehrere Szenen und Bilder haben sich tief, tief, tief in mein Gedächtnis gebrannt.
Mit seiner verqueren Art, Metaphorik auszudrücken und dabei eine stringent-rätselhafte Story zu entwerfen, erinnert mich Vivarium sehr an einen anderen kunstvollen Jesse-Eisenberg-Thriller, nämlich an die andersweltliche angehauchte Neid-Geschichte The Double. Doch zugleich trieft Vivarium vor dem staubtrockenen Sarkasmus und die Verachtung für Smalltalk sowie gesellschaftliche Beziehungsanforderungen, womit sich die meisten von Giorgos Lanthimos' Filmen auszeichnen. Es ist quasi so, als hätte Giorgos Lanthimos The Double gesehen, sich dazu entschieden, dessen Stil und Erzählweise zu adaptieren, jedoch zugleich seiner eigenen Handschrift treu bleiben zu wollen und dann einen Film darüber gedreht, wie verstörend-banal das Leben als Vorstadtfamilie sein kann.
Platz 1: Avengers || Endgame (Regie: Joe & Anthony Russo)
Ich muss es noch einmal betonen: 2019 war für mich einfach ein bombenstarkes Filmjahr. Das zeigte sich mir daran, wie sehr es mir in den Fingern gejuckt hat, meine Jahrescharts sogar auf über 50 Filme zu strecken. Und Vivarium hätte sich in vielen meiner vergangenen Jahresbestenlisten mühelos die Spitzenposition geholt. Aber ich muss einfach den Marvel Studios erstmals in der Geschichte des Marvel Cinematic Universe die Spitzenposition in meinem Jahresranking bescheren: Avengers || Endgame ist eine monumentale filmschöpferische Leistung, die mich in der Pressevorführung völlig aus den Socken gehauen hat - und das ist allein schon deshalb eine herausragende Leistung, da der vierte Avengers-Film nüchtern betrachtet auf dem Papier so einige Dinge tut, die sich mit meinen erzählerischen Vorlieben beißen. Doch in der Umsetzung haben mich die Entscheidungen der Autoren Christopher Markus & Stephen McFeely und der Regisseure Joe & Anthony Russo überzeugt. Avengers || Endgame ackert und ackert, um sich seine narrativen Beschlüsse zu verdienen, und das muss ich einfach entlohnen - zumal es jedenfalls in meinen Augen bei aller kreativer und handwerklicher Anstrengung mit vermeintlicher Selbstverständlichkeit, Unvermeidlichkeit und Leichtigkeit präsentiert wird. Das bestätigte sich bei meinen diversen wiederholten Sichtungen des Films, bei denen Avengers || Endgame die beim ersten Anschauen erzielte Wirkung problemlos wiederholen konnte: Ich spüre nicht, wie dauernd die erzählerischen und inszenatorischen Rädchen rattern und ineinander greifen, stattdessen fühlt sich der Film so an, als müsste er exakt so sein, wie er ist.
Es beginnt schon beim gestaffelten Anfang der Erzählung mit einem Cold Open, einem dramatischen Wiedersehen und letztlich einem sanften und ernüchternd verlöschendem Hoffnungsschimmer, ehe der Hauptstrang aufgenommen und die Zukunftperspektive unserer Helden schrittweise wieder aufgebaut wird. Und es endet mit dem mit Charaktermomenten bespickten, mit einer perfekt sitzenden inneren Dramaturgie versehenen Actionfinale (dem ich somit das etwas matschige Farbdesign sofort verzeihe), auf das konsequente, figurenbasierte und rührende Epiloge folgen. Sollen die Stänkerer doch stänkern, welcher monumentale Teil einer hauptsächlich mit seiner Komik und seinem Spektakel werbenden Filmreihe würde so ein intimes, romantisches und bodenständiges Schlussbild wählen wie Avengers || Endgame? Das gigantische Ensemble ist in Topform, sei es etwa Robert Downey Junior als emotionales Rückgrat, Chris Evans als optimistisches Gewissen, Scarlett Johansson in ihrer besten Popcornkino-Darbietung, Chris Hemsworth als "Ich bin deprimiert und will es nicht wahrhaben"-Thor oder Karen Gillan als zynische, aber neue Seiten an sich entdeckende Nebula. Avengers || Endgame verschaffte mir Dutzende an Kinomomente, die ich nie vergessen werde, von gerührt (das Wiedersehen zwischen Scott und Cassie ist bei mir dank Inszenierung, Struktur und Schauspiel ein Kehlenzuschnürer) hin zu "über die Kreativität und das Kunsthandwerk staunen" (beispielsweise darüber, wie zum zweiten Akt hingeleitet und er eröffnet wird) bis zu nerdig (Startwochenende, voller Saal, Hammer - genug gesagt).
Avengers || Endgame ist, kurz gesagt, eine spektakuläre Feier all dessen, was ich an Kino liebe. Es ist ein gezielt-widersprüchlicher Film (ein rund 350 Millionen Dollar teures Trauerverarbeitungsdrama, das kontinuierlich zum bombastischen Trauerüberwältigungseskapismus wird), der Millionen und Abermillionen von Popcornkino-Fans dazu einlädt, ihren Helden dabei zuzugucken, wie sie erst einmal ganz lange nichts machen. Es ist ein Film, der Alan Silvestri zu seiner besten, größten, flexibelsten Leistung mindestens seit der Jahrhundertwende antreibt. Es ist einerseits figurenzentrisches Kino, als dass eine tragende Säule des Films die Figureninteraktionen und beiläufig skizzierten Figurenentwicklungen darstellt. Andererseits ist es aber auch unverlogen-megalomanisches Spektakel. Der Film ist urkomisch, und dennoch mit einem eher gesitteten Grundtonfall versehen. Avengers || Endgame ist einer dieser Rundumschläge wie Pirates of the Caribbean - Am Ende der Welt, Gone Girl oder Anna und die Apokalypse, als dass dieser Film in sich völlig stimmig einfach mal eben ein halbes Dutzend meiner Filmgeschmackfacetten abdeckt, ohne auch nur ein winzig kleines Bisschen fahrig zu wirken oder zu zerfasern. Ich kann den ganzen Tag so weiter machen ...
Tja, das sind sie also. Meine Lieblingsfilme 2019. Wird 2020 ein ähnlich gutes Jahr? Bisher sieht es absolut danach aus, als dass die ersten Wochen 2020 einen meiner Ansicht nach absurd hohen Qualitätsdurchschnitt mit sich gebracht haben. Hoffen wir, dass das so weiter geht. Und dann sehen wir uns Anfang 2021 bei der nächsten Hitliste wieder!
4 Kommentare:
So, jetzt hab ich ein Jahr lang immer wieder von dir gehört, dass die Kinolandschaft doch lange nicht so tot sei, wie gerne beschrieben, und ich hab regelmäßig ein schlechtes Gewissen bekommen, weil ich diese ganzen Schätze offenbar verpasst habe. Und nun stelle ich fest: Ne, wir haben zurzeit nur extrem unterschiedliche Filmgeschmäcker. :j
Ich freu mich auf jeden Fall für dich, dass du mit der Kinoausbeute glücklich bist. Und ich bleib fürs Erste bei Netflix – deren Serien (und auch Filme) haben mich in den letzten Monaten doch weitaus mehr begeistert.
Ja, das muss ein divergierender Geschmack sein, denn von den Netflix-Filmen, die im Ranking sind abgesehen, finde ich die meisten Filme von denen grauenhaft. (Wobei ich mich bei manchen Filmen in meinem Ranking doch sehr wundere, wenn du sie also offenbar nicht magst.)
Im Gegensatz zum Queen-Biopic fand ich Rocketman so dermaßen schlecht, dass ich es kaum ertragen habe, ihn bis zum Ende durchzuschauen ....
Oh, schade. :( Lag es am Stil oder am Schauspiel? Oder woran?
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