Wenn der zu Recht gefeierte österreichische Regisseur Ulrich
Seidl (Paradies-Trilogie) einen Film produziert, der sich
zwischen Familienhorror und Psychothriller verorten lässt, ist Obacht geboten.
Möchte man meinen. Insbesondere, wenn es sich dabei um das Spielfilm-Regiedebüt
der Journalistin, Drehbuchautorin und Seidl-Lebensgefährtin Veronika Franz
handelt. Möchte man meinen. Und dass Elefantenhaut-Macher
Severin Fialas ebenfalls Regie führte und am Skript mitwirkte, kann ja auch nur
Gutes heißen. Möchte man meinen. Letzten Endes entpuppt sich Ich seh
Ich seh aber als gewaltige Mogelpackung. Was sich angesichts des
Plots dieses Alpengrauens nur schwerlich einer bitteren Ironie entbehrt.
Nach einer schweren Gesichtsoperation kommt die Mutter der
Zwillinge Lukas und Elias zurück in ihr geräumiges, kühl eingerichtetes Haus,
das sich abgeschieden in einem grünen Bergidyll nahe eines Sees befindet. Doch
Wiedersehensfreude will nicht so recht aufkommen. Erstens, weil Mami mit ihrem
Verband und den verquollenen Augen gruselig aussieht. Zweitens, weil sie so
viele Regeln aufstellt. Drittens, weil sie mit einem ihrer Jungs nicht mehr
spricht. Den Brüdern gefällt das gar nicht und der von Mama nicht ignorierte
Sohn bietet sich als Sprachrohr an. Aber das sei keine Lösung, so die Mutter.
Der Lausbub soll sich doch selber entschuldigen! Den eingeschworenen Zwillingen
kommt aufgrund des Verhaltens der Heimgekehrten ein grausamer Verdacht:
Vielleicht ist das gar nicht ihre Mutter, sondern jemand oder gar etwas anderes
..?
Was niemand Ich seh Ich seh nehmen kann:
Franz und Fialas sowie deren Kameramann Martin Gschlacht (Immer nie am
Meer) haben ein Auge für starke Bilder. Wenn die Zwillinge im Prolog
durch die Natur rennen, auf einem wabbeligen Weg entlang hüpfen und ein
schwarz-grüner Waldsee mit seiner spiegelglatten, dreckigen Oberfläche die
Leinwand erfüllt, trieft Ich seh Ich seh vor Atmosphäre. Und
das Haus, in dem sich der Großteil dieses rapide zerbröckelnden Idylls
abspielt, ist wie geschaffen für solch eine Geschichte. Bei Sonnenlicht
offenbart sich, wie leer und klinisch es ist, bei Nacht verschluckt die
Dunkelheit alles um die handelnden Figuren herum. Die Einrichtung, die so
prägnant in Szene gesetzt wird, zeugt derweil von einem versierten Auge für
ausdrucksstarke Bilder – für all zu ausdrucksstarke Bilder, um genau zu sein.
Der Innenarchitekt der schwer verbundenen, fürs Fernsehen
arbeitenden Mutter muss psychopathische Neigungen haben – diese schwingen zwar
im Einklang mit einem erlesenen, zeitgemäßen Geschmack. Aufdringlich sind sie
trotzdem. Von überdimensionalen, verwaschenen Fotografien, die keinen klaren
Blick auf die Gesichter der Motive erlauben, bis hin zu einer Treppe, die dem
römischen Gott Janus gewidmet sein könnte: Schein, Sein, Dopplungen und
Irrtümer werden in Ich seh Ich seh auf visueller Ebene sehr
minutiös und edel, allerdings ebenso unverhohlen und penetrant ausgedrückt.
Stilistisch werden Erinnerungen an Michael Hanekes US-Remake von Funny
Games wach, nicht nur wegen der unpersönlichen Weiß-Töne, die das
Haus prägen und die von den Zwillingen zuweilen getragen werden. Sondern auch
dank der Diskrepanz zwischen geordnetem Schauplatz und eskalierenden Ängsten
und Taten. Nur, dass Hanekes Funny Games, ganz gleich ob
Original oder Remake, eine viel durchdachtere, kompromisslosere und dennoch
komplexere Botschaft vermittelt als Ich seh Ich seh.
Überhaupt lässt sich daran ein wiederkehrender, überaus kritischer
Aspekt dieser Seidl-Produktion erkennen: Franz und Fiala beherrschen es
offensichtlich, bei großen Meistern haargenau abzugucken. Die Kamera schwebt
wiederholt durch die Villa, wie es in Stanley Kubricks Shining
vorgemacht wurde. Gute-Nacht-Lieder offenbaren einen schauderhaften Beiklang,
wie in Wes Cravens Nightmare – Mörderische Träume. Die
gebotenen Einblicke ins österreichische Gemüt könnten aus einem 'echten'
Ulrich-Seidl-Film stammen, würden sie sich nicht auf ein simples „Traue nicht
dem Anschein!“ beschränken. Der Schoß der Familie ist kein sicherer Hort – wie
uns seit Jahrzehnten endlose Filme bescheinigen. Und dass Insekten und surreale
Traumsequenzen (inklusive unverzichtbarer Arthouse-Nacktszene, denn
ungeschminkte Frauenkörper im Mondlicht sind bedeutungsvoll!) genutzt werden,
um die Nerven des angespannten Publikums zu malträtieren, ist auch längst
Standard. Ich seh Ich seh verbindet all dies, versäumt es
aber, diesem sturen, haltungslosem Abhaken von Stilmitteln und Motiven eine
profunde, eigene Note zu verleihen.
Der Trumpf im Ärmel der mit Regisseure, deren Stil so
rüberkommt, als würden sie mit Samthandschuhen ein Brecheisen anfassen und dann
dem Publikum ihre Intentionen einbläuen, ist Susanne Wuest als bittere,
entnervte und herrische Mutter. Die Mimin muss für weite Teile der Laufzeit
allein mit ihrer Stimmlage und ihren Augen arbeiten, und sie versteht es
formidabel, trotz dieser Einschränkung Wut, Erschöpfung und eine emotionale
Distanz zu ihren Leinwandkindern zu vermitteln. Letzteres absolviert Wuest,
ohne sich zu sehr von den Zwillingen abzuwenden, so dass die Frage „Ist sie die
echte Mutter?“ zumindest auf darstellerischer Ebene lange im Raum zu hallen
vermag. Auch Elias und Lukas Schwarz agieren so gut, wie es das hochtrabende,
doch nichtssagende Drehbuch ihnen erlaubt – ganz frei von den Unsicherheiten
oder der Affektiertheit vieler gleichaltriger Schauspieler.
Dass die Figurendynamik und somit die Spannungskurve von Ich
seh Ich seh schneller in sich zusammenbricht, als man „Ich sehe was,
was du nicht siehst ...“ sagen kann, liegt wahrlich nicht an diesen drei Akteuren.
Sondern an der Story, die meilenweit unter dem Niveau der ansehnlichen, wenngleich
arg verkopften sowie identitätsarmen Aufmachung liegt. Wer die Auflösung nicht
bereits 80 Meilen gegen den Wind wittert (respektive 80 Minuten vor Abspann
erahnt), muss sich wohl aktiv gegen das Offensichtliche gewehrt haben. Der
Tempo- und Subgenrewechsel von Ich seh Ich seh kommt nach
seinen aggressiven Vorzeichen leider nur lasch daher, selbst wenn nach dieser
Wende die Handlung zumindest ergiebigere Reizpunkte liefert als zuvor.
Wenn Ich seh Ich seh dann im Finale mit einer
albernen, dramatisch gemeinten Pause (aber glücklicherweise ohne panisch
hallender Musikuntermalung) das offene Geheimnis lüftet, darf sich der
Zuschauer durchaus fragen, wie ein so altes Klischee nur so selbstgefällig neu
verpackt werden konnte. Zumal die Plausibilität des Films bis zur überreizten
Wendung arg davon abhängig ist, wie sehr das Publikum willens ist, das
Verhalten wahlweise der Mutter oder der Kinder blind abzukaufen. Da Ich
seh Ich seh sich nicht völlig einem Fokus verschreibt, bleiben
nämlich beide Seiten zu ausführlich, als dass sie mittels eines gezielten
Informationsmangels befremden könnten, aber gleichwohl zu undefiniert, als dass
sie sich aus der Klischeekiste befreien könnten. Für einen Film, der sich
mittels fremder Federn als so geistreich schmückt, ergeben die Taten der
Figuren erschreckend wenig Sinn – so dass das Ergebnis nicht nervenaufreibend
ist, sondern an den Nerven sägt. Einzig wenn es um körperliche Folter geht,
reißt Ich seh Ich seh seinen schmerzlichen inhaltlichen
Schwächen zum Trotz mit. Zu dokumentarisch und echt sieht das Leid auf der
Leinwand aus, um als Betrachter nicht wenigstens einmal mitschreien zu wollen.
Ansonsten provoziert Ich seh Ich seh aber eher folgenden
Aufschrei: Wieso?
Fazit: Dieser Film sollte viel lieber Schon gesehen Schon gesehen heißen! Denn auch wenn Ich seh Ich seh
wie Kunst aussieht, ist es nur eine C-Horrorgeschichte wie sie bereits zigfach erzählt wurde.
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