Die zweifache Hungerspiel-Überlebende
Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence) verkriecht sich verzweifelt,
verängstigt und verwirrt in einem nicht sonderlich einladend
wirkenden Raum. Manisch spricht sie im Flüsterton mit sich selbst,
erinnert sich an die wenigen Fakten, an denen sie noch festhalten
kann: Sie stammt aus dem ärmlichen Distrikt 12 des diktatorisch
geführten Staates Panem, zerstörte bei den letzten Hungerspielen
die Arena und wurde daraufhin von den Rebellen gerettet. Doch
Katniss' Versuche, sich zu beruhigen, scheitern: Obwohl ihr
versprochen wurde, in Sicherheit zu sein, ist sie voll des
Misstrauens – schließlich enthüllten die verbissenen Gegner des
abscheulichen Präsidenten Snow (Donald Sutherland), sie als
unwissende Figur in einem Schachspiel gegen die Regierung verwendet
zu haben. Da es ihnen obendrein nicht gelang, Katniss'
Leidensgenossen Peeta (Josh Hutcherson) aus der Gladiatorenarena zu
befreien, macht sie den Rebellen und sich selbst schwere Vorwürfe.
Die Aufständischen jedoch wollen keine
Zeit verlieren und warten daher gar nicht erst, bis Katniss das
Geschehen verdaut und sich an ihr neues Zuhause im unterirdischen,
lange zerstört geglaubten Distrikt 13 gewöhnt hat. Vor allem
Medienstratege Plutarch Heavensbee (Philipp Seymour Hoffman) und
Anführerin Alma Coin (Julianne Moore) möchten das Kapitol möglichst
zeitnah am schockierenden Ausgang der kürzlich abgehaltenen
Hungerspiele stürzen – mit Katniss als personifiziertes Symbol der
Rebellion. Ob sie dazu bereit ist, diese schwere und gefährliche
Bürde zu tragen, scheint niemanden zu interessieren …
Endlich wieder eine Saga, die
mit ihren Aufgaben wächst
Die
Tribute von Panem-Filmreihe ist weit mehr als
einfach nur eine weitere von vielen Jugendbuchadaptionen. Dies drückt
sich bereits darin aus, dass es den Produzenten Nina Jacobson und Jon
Kilik gelang, drei Jahre in Folge einen neuen Teil der Saga in die
Kinos zu bringen. Und sofern keine unvorhergesehenen Ereignisse die
Veröffentlichung des vierten Teils hinauszögern, können sie 2015
von sich behaupten, ein jährliches Filmfranchise beendet zu haben.
Trotz dieser beeindruckenden Geschäftigkeit sind die Die
Tribute von Panem-Filme deutlich hochwertiger produziert
(geschweige denn geschrieben) als die ebenfalls Jahr für Jahr ins
Kino geeilten Twilight-Verfilmungen. Eine
bedeutsame Gemeinsamkeit existiert trotzdem zwischen diesen beiden
Reihen: Frei nach dem Vorbild der Harry Potter-Saga
wird die Adaption des finalen Romans in zwei Teile gesplittet. Diese
Methode, an der sich auch Die Bestimmung bedient,
während Der Hobbit bekanntlich sogar gedrittelt
in die Lichtspielhäuser gelangt, ist unter Filmfans, nicht ganz zu
unrecht, umstritten.
Die kreativen Köpfe hinter den
betroffenen Reihen begründen diesen Schritt stets damit, den Fans
der Buchvorlage zum Abschied einen möglichst originalgetreuen und
detaillierten Film bieten zu wollen. Jedoch zweifelt wohl niemand
daran, dass es den Studiobossen allein um die zusätzliche
Gelegenheit geht, das Publikum zur Kasse zu bitten. Hinzu kommt, dass
sich einige Bücher schlicht nicht für eine ausführliche Verfilmung
eignen, weshalb mehrteilige Romanadaptionen leicht zur Redundanz
neigen. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel, und obwohl
Francis Lawrences verklausuliert betitelter Die Tribute von
Panem – Mockingjay: Teil I nach dem turbulenten Schluss
des Vorgängers mehrere Gänge zurückschaltet, zählt der dritte
Panem-Teil zu diesen löblichen Fällen.
Hinter den Kulissen einer
Rebellion
Das größte
Qualitätsmerkmal der neuen filmischen Erlebnisse der kämpferischen
Jugendlichen Katniss Everdeen ist zugleich der Aspekt, der
unvorbereitete Zuschauer eingangs etwas verwundern könnte. Nach dem
leichte Mediensatire und dystopisches Abenteuerfeeling vereinenden
ersten Part und dem in seiner Gesellschaftskritik deutlich bissigeren
zweiten Teil, der neben seiner Abenteueraction auch eine stärkere
Dosis Dramatik bietet, wandelt sich die Die Tribute von
Panem-Saga nämlich ein weiteres Mal. Und dies radikaler
denn je: Mockingjay: Teil I ist im Grunde genommen
ein sehr karges, ernstes Drama über moderne Kriegsführung – bloß
im dystopischen Gewand und gerade so jugendgerecht verpackt, dass es
die bisherige Tribute von Panem-Zielgruppe
weiterhin erreicht.
Mit diesem geänderten thematischen
Schwerpunkt kommt auch – schon wieder – eine neue Ästhetik
daher: Produktionsgestalter Philip Messina und das Kostümdesigner-Duo
Kurt Swanson & Bart Mueller setzen nahezu ausnahmslos auf dunkle
Erdtöne und schlichtes Grau. Bei aller Trübseligkeit ist die
Ästhetik dieser Lionsgate- und Color-Force-Produktion die bisher
eindrücklichste im Franchise, was der dichten Atmosphäre und
Weltbildung zugutekommt. Ob der hoch funktionale, beengende Distrikt
13, dessen Gestaltung an das verwinkelte Innere von Atomkraftwerken
der 1960er und 1970er erinnert, oder die verwüsteten Überreste
anderer Distrikte, die Katniss besucht: Die gesamte Filmwelt wirkt
authentisch, verlebt und lässt unentwegt das Gefühl aufkommen, sich
als Zuschauer in einem vor dem Umbruch stehenden, zerrütteten Staat
zu befinden.
Und
vor exakt dieser bedrückenden Kulisse lassen die auf Suzanne
Collins' Vorlage aufbauenden Drehbuchautoren Danny Strong und Peter
Craig ihre Heldin Katniss Everdeen die unangenehmen Pflichten einer
Aufstandsikone durchleiden. So besucht sie ein Feldlazarett, um den
Anwesenden trotz ihrer hoffnungslosen Lage Mut zu machen, lässt sich
in Strategiegesprächen von Heavensbee und Coin herumschubsen und
wird widerwillig zur Protagonistin aufrührerischer, pathetischer
Propagandaspots gegen das Kapitol. Auch wenn vereinzelt kurze, aber
umso intensivere Sequenzen erste Guerillakämpfe zeigen, liegt das
Hauptaugenmerk dieses Films nicht auf Feldeinsätzen, sondern auf den
medial-strategischen Aspekten eines Krieges. Und somit trifft Die
Tribute von Panem – Mockingjay: Teil I den Nerv der Zeit:
Politische Kämpfe werden dank der Fortschritte in der
Kommunikationstechnik mehr und mehr über die Medien ausgetragen
(Stichwort: Arabischer Frühling), und wie wichtig inspirierende
Aushängeschilder für solch eine moderne Revolution sind, stellt
dieses Jugenddrama erstaunlich treffend dar.
Darüber hinaus setzen die
Verantwortlichen den in Catching Fire begonnen
Ansatz fort, die zentrale Auseinandersetzung der niederen Distrikte
gegen ihre hedonistischen Herrscher differenziert zu betrachten: Da
in Mockingjay kein Sieg der Rebellen ohne herbe
Verluste geschieht, die Franchis Lawrence auch drastischer zeigt als
noch Gary Ross die Hungerspiel-Opfer in Teil eins, und Katniss von
den Rebellen allein ob ihrer Funktion respektiert wird, fehlt der
Panem-Reihe die in Hollywood sonst so verbreitete
Glorifizierung militärischer Gewalt. Zwar lässt der in anspannender
Gemächlichkeit erzählte Film keinen Zweifel daran, dass Snows
Regentschaft gestürzt werden muss, gleichwohl werden die
unschuldigen Opfer des Bürgerkriegs und die steten Gefahren eines
blutigen Umsturzes klar. Recht anspruchsvoller Stoff, erst recht für
eine primär an Jugendliche gerichtete Filmreihe.
Neue und altbekannte Akteure,
die das Geschehen im Kontext der Reihe verankern
Es
ist Regisseur Lawrence sowie den Autoren Craig und Strong sehr hoch
anzurechnen, dass sie die 123 Minuten Laufzeit dieses „Halbfinals“
nicht nutzten, um stylisch choreografierte Actionpassagen, all zu
kitschige Liebesszenen oder gar übermäßig viele Comedysequenzen
einzustreuen. Viel mehr verlassen sie sich darauf, dass die treuen
Zuschauer den Anspruch des neuen Teils zu schätzen wissen –
immerhin stützen sich die Motive auf dem aus den Vorläufern
bekannten Material. Und während im ersten Teil das obligatorische
Liebesdreieck noch etwas forciert daherkam, dient es in
Mockingjay in überschaubaren Dosen vor allem der
Charakterisierung unserer Heldin Katniss. Darüber hinaus lenkt es
aber auch Aufmerksamkeit auf eine weitere Frage: Ist es allein
Katniss Zuneigung zu Peeta, die sie dazu bringt, weiter an seine
Integrität zu glauben, obwohl er in Propagandaspots fürs Kapitol
auftaucht? Oder ist es auch ohne romantische Bindung in Ordnung,
daran zu Zweifeln, dass alle Kollaborateure eines Regimes die
Überzeugungen der Täter teilen?
In seinen wenigen Leinwandminuten zeigt
Peeta-Darsteller Josh Hutcherson einen graduellen Wandel seiner
Figur, was ihm ermöglicht, durch das gebotene Material über sein in
den ersten Panem-Teilen geliefertes, bestenfalls
annehmbares Niveau hinaus zu reichen. Ähnlich ist es um Sam Claflin
bestellt. Der Pirates of the Caribbean – Fremde
Gezeiten-Mime, der in Catching Fire als
Finnick Odair noch schmückendes Beiwerk war, hat in diesem Part zwar
erneut wenig zu tun, dafür gehört sein Monolog, in dem er sein
ganzes Wissen über das Kapitol preisgibt, zu den Gänsehautmomenten
dieser Großproduktion. Liam Hemsworth reicht angesichts seiner
weniger dramatischen Szenen als Gale Hawthorne zwar nicht an seine
männlichen Jungdarstellerkollegen heran, trotzdem verleiht auch er
seiner weiterhin ausbaufähigen Figur mehr Profil als zuvor. Dies
gilt auch für Willow Shields als Katniss' Schwester Primrose, die
kurz vor dem letzten Akt dieses Teils leider Auslöser der einzigen
bemüht wirkenden, das Material unnötig streckenden Spannungsszene
ist. Woody Harrelson und Elizabeth Banks werden in ihren
wiederkehrenden Rollen vom Geschehen dagegen nahezu völlig an den
Rand gedrängt, wobei Banks den Vorteil hat, dass ihre affektierte
Effie Trinket einen krassen, plotgestützten Wandel durchmacht und
daher eine kleine, aber feine Darbietung geben darf.
Dies scheint das verbindende Element
des Ensembles rund um Jennifer Lawrence zu sein: Waren vor allem im
Erstling viele der Randfiguren bloße Staffage, können die
Nebendarsteller in Mockingjay mit markantem Gestus
ihren Figuren ein Eigenleben verleihen, selbst wenn der Zuschauer nur
wenig über sie erfährt. Dies gilt etwa für Natalie Dormer als
Cressida, die strenge, zynische Regisseurin der Propagandafilmchen
mit Spotttölpel Katniss in der Hauptrolle, sowie Julianne Moore und
Philip Seymour Hoffman als Strippenzieher der Rebellion. Moore ändert
von Szene zu Szene subtil die innere Haltung der eigensinnigen
(anfangs fast gelangweilt erscheinenden) Anführerin, Hoffman
unterdessen dominiert seine wenigen Sequenzen mit einer prägnanten
Mischung aus Abgebrühtheit und trockenem Humor. Es sind –
zumindest in diesem Film – äußerst knapp gefasste Rollen,
trotzdem spielen die preisgekrönten Akteure sie nicht lustlos
herunter, sondern schröpfen das Beste aus dem gegebenen, knappen
Stoff.
Die Macht des Spotttölpels
Mimisch
gehört Die Tribute von Panem – Mockingjay: Teil I
eh nahezu allein Oscar-Preisträgerin Jennifer Lawrence. Und dies,
obwohl die beliebte Schauspielerin in den ersten Filmminuten ein
wenig enttäuscht. Katniss' Wut und Verzweiflung brachte die
24-Jährige gegen Ende von Catching Fire deutlich
besser zur Geltung als in den anfänglichen Passagen dieses Teils, wo
ihr Spiel mehr an die Monotonie erinnert, die sie in The
Hunger Games partiell zu Tage legte. Dies ist wohlgemerkt
nicht allein Lawrences Schuld, da der Einstieg in das dritte
filmische Panem-Kapitel nicht pointiert genug
gewählt ist. Nach rund zehn Minuten gewinnen Skript und Regieführung
aber an Schärfe, wovon auch Lawrence profitiert, die Katniss je nach
Situation als hilflosen Spielball der Mächte oder als zielstrebige
Kämpferin skizziert und vor allem die Zwischentöne überzeugend
spielt.
Wenn Lawrence die unbeholfene Seite
ihrer Figur wieder hervorkehrt und die ersten Propagandaclips der
Rebellen verhaut, sorgt sie zudem auch für einige der wenigen, sich
natürlich aus der Situation entwickelnden Lacher des Films. Zudem
trägt Lawrence mit einem sanft gesäuselten Lied den Höhepunkt von
Die Tribute von Panem – Mockingjay: Teil I: Eine
eindringlich geschnittene Gegenüberstellung der „oberen“
Rebellen und des sich gegen das Regime auflehnenden Volkes. Mit
übersichtlicher Kameraarbeit und die Emotionen untermalendem Schnitt
(statt des Gewaltspitzen vertuschenden Schnittgewitters aus Teil
eins) wächst das Franchise in dieser Szene endgültig über sich
hinaus – womit das Warten auf den Abschluss im November 2015 sehr,
sehr schwer fällt.
Fazit: Weniger Action, mehr
Anspruch: Die Tribute von Panem – Mockingjay: Teil I
führt die filmische Gattung der Jugendbuchverfilmungen in
ungewohnte, politisch motivierte Sphären. Bravo!
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